Vor dem Richter sitzt ein schlanker, grauhaariger Mann mit Bürstenschnitt. Er trägt eine braune Wildlederjacke und Turnschuhe, ein kleiner Ring ziert sein linkes Ohrläppchen. "Er ist eine sehr gepflegte Erscheinung", schrieb die psychiatrische Gutachterin über Bernd Handke*, der sich im September 2008 in Sichtweite junger Umschülerinnen postierte und sie anschaute, während er mit der Hand in der Hosentasche onanierte.
Die Frauen reagierten zunächst belustigt und dann angeekelt. Zuletzt sorgten sie sich bei dem Gedanken an die im Umkreis befindlichen Kindertagesstätten und Schulen. Sie beschlossen, den Mann anzuzeigen - falls sie ihn noch einmal erwischen sollten. Tatsächlich sahen sie ihn eine Woche später wieder. Sie verfolgten den Rentner zu seinem Auto und notierten sein Kennzeichen.
Doch warum belästigt der Mann seine Mitmenschen? Bernd Handke kennt den Grund für sein krankhaftes Verhalten - wie nur wenige seiner bundesweit rund 10.000 Leidensgenossen. Begonnen habe es in der Schulzeit, in der Pubertät: Eine Mitschülerin bemerkte die Erektion des 13-, 14-Jährigen und kicherte darüber. Oma und Mutter gestatteten dem kleinen, schmalen Jungen nicht, modische Klamotten zu tragen. Er fühlte sich ausgegrenzt und so hatte er sich bei seinen Mitschülern nur als Klassenclown bemerkbar gemacht. Doch die Erektion und das kichernde Mädchen eröffneten seinem Wunsch nach Aufmerksamkeit ein ganz neues Feld.
"Nasebohren würde toleriert werden"
Auch die Psychiaterin, die den heute 64-Jährigen vor dem Prozess begutachtete, begründet dessen Verhalten mit der Kindheit. Handke sei bei einer strenggläubigen, dominanten Großmutter aufgewachsen. Seine Mutter war kaum zu Hause, sie musste Geld verdienen. Vater und Großvater existierten nur am Rande. "Männliche Personen und deren Sexualität sind von der Großmutter abgewertet worden", schreibt die Gutachterin. Der Angeklagte kompensiere diese Erfahrung durch exhibitionistische Handlungen. "Durch das Zeigen seiner männlichen Potenz steigert er sein Selbstwertgefühl", so die Psychiaterin. "In Stresssituationen mache ich so etwas, wenn ich mich ganz unten fühle", sagt der Angeklagte. "Würde ich mir stattdessen in der Nase bohren, wäre das auch nicht schön, aber es würde eher toleriert werden."
50 Jahre sind seit Handkes Schlüsselerlebnis in der Schule vergangen. Seitdem kassierte er 46 Anzeigen, sein Strafregister weist 32 einschlägige Verurteilungen auf. Zwei Mal saß er sogar im Gefängnis: 1966 für sechs Monate und fünf Jahre später für 27 Monate. Gut kann sich der Rentner daran erinnern, wie er als Jugendlicher vor grauhaarigen, respekteinflößenden Richtern zitterte und daran, wie ihm die damaligen Experten rieten, öfter mal kalt zu duschen. Das letzte Mal wurde er vor zwei Jahren zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt, eigentlich darf er bis 2011 keine Straftaten begehen. Dennoch begab er sich zu den Umschülerinnen.
Es geht um Anerkennung, die keine ist
"Wir alle haben den Trieb, uns sexuell auszuleben", sagt der Richter. "Wir können aber nicht einfach übereinander herfallen. Da gilt für Sie das Gleiche. Oder haben Sie eine andere Perspektive?" "Aus meiner Perspektive ist das genauso", erklärt der Angeklagte. "Es wird mir immer unterstellt, ich mache das zur Befriedigung, aber ich erlange dadurch keine Befriedigung. Im Gegenteil, hinterher fühle ich mich noch beschissener. Mir geht es um Anerkennung, die keine ist."
Auch bei der angeklagten Tat war dies so. Er sei mit seiner Lebensgefährtin umgezogen und musste seine alte Wohnung renovieren. "Der Hauseigentümer stand da, braungebrannt, zuppelte an der Tapete und sagte zu mir: 'Das können Sie so nicht machen!' Das ist mir so schwer gefallen, da noch mal zu renovieren." Auf dem Rückweg vom Baumarkt bemerkte er die Gruppe junger Frauen: "Ich bin da hingegangen und hab dis da gemacht."
Selbsthilfegruppen für Exhibitionisten gibt es nicht
Seit sechs Jahren ist er trocken, vor seinem letzten Rückfall hielt er zwölf Jahre durch. Zweimal in der Woche besucht er eine Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Er engagiert sich im Verein für alkoholfreies Leben, geht in Entgiftungsstationen und redet dort mit seinen Leidensgenossen. "Wenn ich in meiner Selbsthilfegruppe für Alkoholiker sage, da war der Saufdruck da, weiß jeder, was gemeint ist. Aber ich kann nirgendwo sagen, am liebsten hätte ich meinen Schwanz heraus gehangen." Die Suche nach Anerkennung machte ihn nicht nur zum Exhibitionisten, sondern auch zum Alkoholiker. Während seiner Lehre zum KfZ-Mechaniker seien die trinkfesten Burschen gut angesehen gewesen. "So wollte ich auch sein", sagt Handke. "Doch vom Alkohol wurde mir immer schlecht, ich musste kotzen. Ich habe dann so lange getrunken, bis sich das gegeben hat." Da war es bis zur Abhängigkeit nicht mehr weit.
Eine Selbsthilfegruppe für Exhibitionisten ist ihm nicht bekannt. "Wir stehen allein. Man kann mit niemandem darüber reden." Gern möchte Bernd Handke eine solche Gruppe gründen. Doch wie soll er die Betroffenen finden? Vier, fünf Mal habe er bei der Präventionsabteilung der Kriminalpolizei angerufen, um andere Exhibitionisten zu finden. Aber er bekam keinen Rückruf, offenbar interessierte es dort niemanden. "Ich habe die Schnauze voll", sagt der Angeklagte. "Es ist mir unangenehm, mit 64 Jahren vor dem Kadi zu stehen. An meinem Lebensabend will ich nicht saufen oder exhibitionistische Handlungen machen."
Und was ist mit einer Therapie? "Es ist schwer, für Exhibitionismus einen Therapeuten zu finden. Ich habe bei einer Therapeutin drei, vier, fünf Stunden Sitzung gehabt. Dann stellte sie fest, das kann und will sie nicht." Vor sechs Jahren begab sich Handke erstmals für längere Zeit zu einem Psychologen. Der stocherte in den Kindheitserlebnissen herum. "Ich habe gemerkt, dass mir das nichts nutzt, zu wissen, wo das her kommt", sagt der Angeklagte.
Therapie seit einem halben Jahr
Seit einem halben Jahr arbeitet er mit einer Verhaltenstherapeutin, die ihn unterstützen möchte, sein eingeübtes Muster zu ändern. "Herr Handke ist hoch motiviert, das Verhalten zu unterlassen und zukünftig anders zu regulieren", schreibt diese Psychologin dem Gericht. "Ich will Ihnen nicht erzählen, neue Therapeutin und alles wird schön.", sagt der Angeklagte. "Das wird längere Zeit brauchen. Aber ich habe ein gutes Gefühl."
Der junge Referendar der Staatsanwaltschaft bekam von seinem Vorgesetzten die Order, für den Bewährungsbrecher zehn Monate Haft zu fordern. Handkes Verteidigerin bittet darum, "mehr auf die strafmildernden Aspekte zu sehen" und "die Bewährung stehen zu lassen."
"Es ist schwer, das richtige Urteil zu finden", sagt der Richter. "Wir haben hier wesentlich schlimmere Fälle, Körperverletzung und anderes. Da ist man der Meinung, diese Leute gehören ins Gefängnis. Aber bei Ihnen habe ich das Gefühl, das bringt nichts." Er nehme dem Angeklagten seinen Leidensdruck ab: "Mir kann keiner erzählen, dass er wiederholt Gefängnis in Kauf nimmt, um weiter zu machen, ohne dass es Gründe dafür gibt."
"Die Hände im wahrsten Sinne still halten"
Der Richter verurteilt Handke zu 1200 Euro Geldstrafe (80 Tagessätze): "Ob das die richtige Entscheidung ist, weiß ich nicht. Solange es gestandene Frauen betrifft, mag das gehen. Aber sobald es Kinder betrifft, ist es nicht gut." Handke habe genügend Anlass, sich vor einer Wiederholung zu hüten: "Die Bewährung läuft und auch durch dieses Urteil gibt es Druck. Sie sollten Ihre Therapie machen und die Hände im wahrsten Sinne still halten."
Allerdings werde die Staatsanwaltschaft in Berufung gehen: "Mein Wort wird noch einmal überstimmt werden", sagt der Richter. Der Rentner befürchtet nun, die nächste Instanz könnte seine Bewährung widerrufen und ihn für mehr als ein Jahr ins Gefängnis stecken. Ob die Lebensgefährtin dann noch zu ihm hält, wenn sie ihren erwachsenen Kindern erklären muss, dass sie mit einem inhaftierten Exhibitionisten liiert ist? Ob sein 18-jähriger Sohn den Kontakt zu seinem Vater halten wird? Handke gibt sich pessimistisch: "Dann kann ich mein ganzes soziales Umfeld knicken." Sein Selbstwertgefühl ist wieder ganz unten.
* Name von der Redaktion geändert