Ein lauter Knall zerreißt die Sommerluft. Er rührt von einem zwei Tonnen schweren LKW, der auf eine Mine gefahren ist. Fahrer und Beifahrer werden bei der Explosion verletzt. Schnell und umsichtig sollen sie im Feindesland durch Sanitäter geborgen werden. So lautete das Ziel einer militärischen Übung, an der auch Rico Seifert* teilnahm. Weil der 22-jährige Zeitsoldat damals weder zügig die Kameraden bergen noch aufmerksam nach möglichen Heckenschützen Ausschau halten wollte, erhielt er wegen Gehorsamsverweigerung einen Strafbefehl über 1200 Euro (60 Tagessätze). Doch auch den akzeptierte er nicht. Ein Jahr später wird der Vorfall nun vor dem Amtsgericht verhandelt.
Uta Eisenhardt
Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin und schreibt für stern, "Spiegel", "Zeit", "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und die "Taz". In der neuen stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.
Bitte oder Befehl?
Der Vorwurf sei im Großen und Ganzen richtig, sagt der Angeklagte und begründet seinen Einspruch gegen den Strafbefehl: "Ich finde es für mich sehr wichtig, dass ich meine Aussage machen kann." Es ist der erste Satz, den Rico Seifert in der Verhandlung sagt - ein Satz mit viel Ich-Bezug. Dazu passt auch sein Erscheinungsbild: Sorgfältig hat der Angeklagte die blondierten Spitzen des angedeuteten Irokesen-Haarstreifens nach oben gegelt. Eine Haarinsel am Kinn und eine extravagante Brille verleihen seinem jungen Gesicht etwas Kontur.
An jenem Augusttag, um den es hier geht, zeigten die frisch ausgebildeten Sanitäter truppweise ihr Können im Übungsgelände. Drei Ausbilder beobachteten sie dabei. Gemeinsam mit einem Kameraden sollte Seifert die Verletzten bergen, die anderen übernahmen die Rundumsicherung des Geländes vor möglichen Heckenschützen. Er sei damals körperlich am Ende gewesen und habe dies auch laut geäußert, sagt der Angeklagte dem Gericht. Er habe dann versucht, weiter zu machen und sei vom Oberfeldwebel zum Rennen aufgefordert worden. "Soweit ich weiß, soll an der Unfallstelle nicht gerannt werden", habe der erschöpfte Hauptgefreite damals geantwortet. Der Oberfeldwebel bat ihn dann nochmals um Beschleunigung - das will der junge Mann aber nicht als Befehl verstanden haben.
"Ich gehe nach Hause!"
Nachdem der erste Verletzte unter viel Diskussion geborgen war, rief Seifert: "Ich kann nicht mehr" und erklärte sich zum Sicherungsposten. Doch statt den ihm zugeteilten Abschnitt zu beobachten, verfolgte er interessiert die weitere Bergung der Verletzten durch seine Kameraden. Ein Stabsunteroffizier nahm Seifert beiseite und erklärte ihm: "Sie wissen, dass Sie für Ihr Verhalten die Jacke ausziehen könnten!" Der Kritisierte ließ daraufhin wütend seine Waffe fallen - aus etwa einem Meter Höhe, so schildert es eine Zeitsoldatin dem Gericht. Seifert beteuert dagegen, er habe die Waffe auf seinem Rucksack abgelegt und dann erregt gebrüllt: "Das ist mir doch egal. Ich lasse mich nicht anschreien. Von mir aus können Sie die Jacke haben! Ich gehe nach Hause!" Nur "Leckt mich am Arsch!" sei nicht dabei gewesen, erklärt der Angeklagte. Am nächsten Morgen habe er sich entschuldigen wollen, aber da war die Beschwerde schon raus. "Eigentlich darf die erst 24 Stunden später erstattet werden", sagt Seifert. Sieben Tage musste er damals als Disziplinarstrafe im Arrest verbringen.
Sein Verhalten sei ganz klar eine Gehorsamsverweigerung, meint die Richterin und zitiert aus dem Wehrstrafgesetz. Danach wird derjenige, der sich gegen einen Befehl mit Wort oder Tat auflehnt, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Sie glaubt, der angebotene Strafbefehl sei ziemlich mild: Seifert bekäme eine Geldstrafe für ein Delikt, das eigentlich nur mit Haft geahndet werden kann. "Sie haben die Tat eingestanden, Sie sehen es nur nicht ein", sagt die Richterin und empfiehlt ihm, seinen Einspruch zurück zu nehmen. Sie müsse sonst eine Strafe verhängen, die im Führungszeugnis erscheine. "So ein Eintrag ins Strafregister verschwindet lange nicht. Wollen Sie sich etwa nie wieder um einen Job bewerben?" Doch der junge Mann erklärt: "Schlimmer kann es auch nicht werden."
Die Jugend von heute
Die Richterin verhandelt weiter. Sie ruft nun den Oberfeldwebel herein. Der beobachtete damals die Gruppe bei der Abschlussprüfung. "Alles ging sehr schleppend. Sie sollten mehr Elan in die Übung investieren", habe er die Truppe aufgefordert. "Es geht schließlich um verletzte Kameraden." Der Hauptgefreite Seifert habe ihn entgegnet man habe am Unfallort nicht zu rennen. Das sei in der Krankenpflegeschule so gelehrt worden. Daraufhin habe er Seifert erklärt, sagte der Oberfeldwebel vor Gericht, es handele sich nicht um eine zivile, sondern um eine militärische Übung. Da müsse man schnell aus der Gefahrensituation heraus.
"War Ihre Weisung eindeutig als Befehl zu erkennen?", vergewissert sich die Amtsrichterin. Natürlich, sagt der Berufssoldat. Ein Befehl sei die Forderung eines Vorgesetzten an einen Untergebenen. "Man muss nicht sagen, ich befehle." Nun wundert sich die Amtsrichterin. "Und dennoch wurde diskutiert?" Die Beantwortung der Frage ist dem Zeugen ein wenig unangenehm. "Die Jugend versteht heutzutage nicht mehr den Gehorsam. Soldaten sind schließlich Bürger in Uniform und wir sind ein Spiegel der Gesellschaft", verteidigt der 30-Jährige die moderne militärische Kommunikationskultur. Oft werde ein Befehl nicht sofort befolgt. "Doch spätestens wenn er wiederholt wird, müssen die Diskussionen eingestellt werden", sagt der Zeuge.
"Dann bleibt mir nichts anderes übrig"
"Das ist sehr demokratisch", sagt der Staatsanwalt, der zugibt, niemals Soldat gewesen zu sein. Auch die Richterin ist überrascht. Sie habe immer gedacht, die Bundeswehr bestünde aus Freiwilligen, die sich mit ihrem Eintritt in die Armee zum Gehorchen verpflichten. Dennoch hat Seifert ihrer Ansicht nach eine Gehorsamsverweigerung begangen, schließlich sei der Befehl wiederholt worden. Noch einmal wendet sich die Richterin an den Angeklagten: "Ich weiß nicht, was Sie wollen", sagt sie und empfiehlt ihm eindringlich, den Strafbefehl zu akzeptieren. Doch der hat noch immer nicht begriffen. Bockig sagt er: "Mein Leben ist eh schon am Ende." Wieder einmal habe sich für ihn gezeigt, "Mannschaftssoldaten bekommen nie Recht, Dienstgrade haben immer Recht!"
Nun reicht es der Richterin: Seifert zeige sich vor Gericht genauso uneinsichtig und rechthaberisch, wie sie es vor der Verhandlung in der Beurteilung durch seine Vorgesetzten gelesen habe. Doch wer diskutieren wolle, solle in die Politik gehen, nicht zur Bundeswehr. Dort sei man ein Befehlsempfänger. Derart bedrängt schwindet des Angeklagten Widerstand, allerdings nicht restlos. "Dann bleibt mir nichts anderes übrig", begehrt er ein letztes Mal schwach auf, bevor er endlich in den Strafbefehl einwilligt.
* Name von der Redaktion geändert