Ellen Fritz* sitzt ganz vorn vor dem Richtertisch. Hinter der 63-jährigen Rentnerin mit dem gutmütigen Gesicht und den rotgefärbten Haaren hat ihr Lebensgefährte Celal Parlak* Platz genommen - ein hagerer, glatzköpfiger Türke, der lange Zeit als Schrotthändler gearbeitet hat. Der dritte Stuhl, der für Hao Yong Kim* bestimmt war, bleibt leer. Ihn habe das Schreiben des Gerichts nicht erreicht, beteuert der 33-jährige Vietnamese einen Monat später. Also verhandelt der Richter zunächst nur gegen das Pärchen.
Die beiden Angeklagten sollen erst einmal ihre Personalien nennen. Doch während die Aufregung bei Ellen Fritz Schweißausbrüche verursacht, führt sie bei ihrem 15 Jahre jüngeren Lebensgefährten zu Konzentrationsproblemen. So verneint Celal Parlak die Frage des Richters nach Kindern. Erst als seine Lebensgefährtin interveniert - "Doch, du hast Kinder!" - fallen ihm seine beiden erwachsenen Söhne ein. Der Richter zweifelt, ob der Angeklagte ihn überhaupt versteht und will einen Dolmetscher holen lassen. Aber der Türke lehnt das Angebot ab.
Der Tisch passt nicht ins Auto
Es war an einem Februarabend, als Hao Yong Kim den Imbiss vor seiner Haustür betrat und dessen Betreiber Ali von einem Stehtisch erzählte, den er an einer Straße entdeckt habe. Der sei so groß, dass er nicht in sein Auto gepasst habe. Ob Ali den Tisch gebrauchen könne, wollte der Vietnamese wissen. Doch der nur schlecht Deutsch sprechende Imbiss-Betreiber war nicht interessiert an dem Angebot, das ihm der Vietnamese in ebenso schlechtem Deutsch unterbreitete. Ali entnahm dem Gespräch, so schildert er es später dem Richter, der Vietnamese habe viel Schrott gefunden und suche nun jemanden, der diesen mit seinem Lkw abtransportieren könnte. Da fiel ihm der Schrotthändler Celal Parlak ein.
Gegen zehn Uhr abends rief der Imbiss-Betreiber bei seinem Freund Parlak an. Ellen Fritz nahm den Hörer ab. Ali erzählt, ein junger Vietnamese müsse Schrott transportieren - viel Schrott. Ob sie nicht mit ihrem Transporter kommen könnten? Die Rentnerin war nicht begeistert: Lässt sich das nicht auf morgen verschieben, entgegnete sie. Parlak sei gerade aus der Türkei zurück gekommen, er sei sehr müde. Nein, das ginge nicht, sagte der Anrufer. Morgen könne der Schrott schon weg sein. Wenig begeistert setzte sich das Paar in seinen kleinen Lkw. Unterwegs stieg Hao Yong Kim zu und dirigierte sie zu einer Fleischerei.
Viel Aufwand für einen lumpigen Tisch
"Wo ist der Schrott?", will Parlak gefragt haben. "Da steht er doch", antwortete der Vietnamese und zeigte auf einen massiven Stehtisch, an dessen Seiten Müllfächer mit Edelstahl-Türen angebracht waren. In dem Türken stieg der Ärger hoch. Für diesen lumpigen Tisch soll er eine Stunde lang völlig übermüdet vom südlichsten Ende zum nördlichsten Ende der Großstadt gefahren sein?
Uta Eisenhardt
Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin. In der stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.
Die beiden Männer hätten sich dann gestritten, schildert Ellen Fritz dem Richter. Sie habe den Vietnamesen gefragt, wieso der Tisch Schrott sei. Weil der Laden aufgegeben werde, er würde derzeit ausgeräumt, lautete die Antwort. Sie habe durch das Schaufenster geguckt. "Der Laden war leer", sagt Ellen Fritz. "Ich habe ihm geglaubt, obwohl es mir ein bisschen komisch vorkam." Man müsse doch fragen, bevor man sich etwas nimmt, wirft der Richter ein. "Ja", sagt Fritz schuldbewusst. Doch der Vietnamese habe gesagt, der Tisch stünde schon lange auf der Straße. Das habe sie überzeugt. Gemeinsam luden die beiden Männer das sperrige Stück in den Transporter und fuhren zu Alis Imbiss zurück. Dabei wurden sie von einer Hundebesitzerin beobachtet. Die fand die nächtliche Aktion merkwürdig und notierte das Kennzeichen.
Als das Trio in jener Nacht bei Alis Imbiss ankam, forderte der Vietnamese 50 Euro für den Tisch. Er ging davon aus, Parlak habe Interesse an dem Tisch als solchen - nicht als Schrott. Er hatte nämlich zunächst Ali den Tisch angeboten. Der war nicht interessiert, verwies ihn aber an den Schrotthändler. So legte der Imbiss-Betreiber mit seinem nächtlichen Anruf den Grundstein für ein folgenreiches Missverständnis. "Du spinnst wohl", antwortete der Türke auf die Geldforderung des Vietnamesen. Der Gescholtene verdrückte sich nun und ließ den müden, verärgerten Mann mit dem sperrigen, halb abgeladenen Stück einfach stehen.
Bei Ali hätte der Tisch nicht bleiben können: Der hatte Angst vor den Fragen der Polizei. "Sie wussten nicht, was Sie mit dem Ding machen sollen?", erkundigt sich die Staatsanwältin bei Fritz. "Genau", sagt die Angeklagte. "Dann haben wir ihn drauf gelassen." Am nächsten Tag fuhr ihr Lebensgefährte das schwere Stück zum Schrottplatz. Zwölf Euro habe er dafür bekommen, sagt Parlak dem Richter. Zwölf Euro für eine 100-Kilometer-Autofahrt quer durch die Großstadt, mitten in der Nacht. Nun sitzt er hier und muss sich anhören, wie wertvoll der Tisch gewesen sein soll.
Leuchtreklame und Würste
1000 Euro setzt die Prokuristin der Fleischerei für ihn an. Als der Richter sie skeptisch anschaut, sagt die Zeugin: "Das war ein massiver Tisch mit einer Kunststeinplatte!" Weil er so schwer gewesen sei, hätte man es nicht für nötig gehalten, ihn anzuschließen. Man habe bis heute auch noch keinen neuen Tisch gekauft. Ob der Laden einen verlassenen Eindruck erweckt habe, will der Richter von der Prokuristin wissen. Das könne sie sich nicht vorstellen, sagt diese. Es gäbe eine Leuchtreklame, im Laden würden Würste hängen und im Schaufenster stünden Fleischkonserven.
Celal Parlak versetzen die Schilderungen der Zeugin in Wut. Er ringt nach Worten, um die Frau als Lügnerin zu bezeichnen. Doch für Beschimpfungen hat der Richter keine Zeit. Nach kurzer Beratung mit der Staatsanwältin schlägt er vor, das Verfahren gegen die beiden Angeklagten einzustellen - falls jeder der beiden 300 Euro an die geschädigte Fleischerei zahlen würde.
"Parlak nix klaut macht"
Ellen Fritz atmet tief durch. "300 Euro..." Sie seufzt. Parlaks Wut ist immer noch nicht verraucht. "Das ist Müll auf der Straße gewesen!", begehrt er auf. Der Richter entgegnet: "Sie hatten doch selbst Zweifel, ob das Müll ist!" Der Türke erwidert, man könne ihn gern zu 300 Euro verurteilen, aber die würde er nicht zahlen. In diesem Fall, erklärt ihm der Richter geduldig, würde er zu einer Geldstrafe verurteilt und müsse außerdem noch den Tisch bezahlen.
Ellen Fritz ist die Erste, von der die Vernunft Besitz ergreift. Während ihr Lebensgefährte noch zetert: "Parlak nix klaut macht", verkündet sie entschlossen: "Wir zahlen!" Sie hat begriffen, welches Sprichwort hier gilt. "Mitgegangen, mitgefangen", sagt sie und seufzt noch einmal.
Einen Monat später, als Hao Yong Kim dann allein vor dem Richter sitzt, bietet der dem Vietnamesen ebenfalls die 300-Euro-Lösung an. "Ich habe nur gewollt Gutes", radebrecht der Mann aus Hanoi, der sich in jener Nacht mit zwei ebenso radebrechenden Türken über die Verwertbarkeit eines Tisches verständigen wollte. Das ist gründlich schief gegangen.
*Namen von der Redaktion geändert