Sie hatte sich köstlich amüsiert in dieser Februarnacht. Mit Freunden war Marie Sodenkamp* auf einer Lesung und einem Konzert gewesen. Dann war Schnee in dicken Flocken vom Himmel gefallen und die Truppe hatte sich noch eine Schneeballschlacht mit wildfremden Leuten geliefert. Nun stapfte die 36-Jährige müde und glücklich nach Hause. Der Sonntag war keine fünf Stunden alt.
Auf dem Heimweg hörte die große, sportliche Blondine Schritte im Schnee, jemand folgte ihr in den Hausflur. Dies war nichts Besonderes, im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg kommen viele junge Leute erst sehr spät nach Hause. Erst als die Schritte auch auf dem Weg zum Seitenflügel nicht verklangen, drehte sie sich um und sagte "Hallo". Ihr Blick fiel auf einen Mann mit einer bauschigen, braunen Perücke, "er hatte so eine Art Angela-Merkel-Statur", sagt die Literatur-Übersetzerin. Noch während sie realisierte, dass der Verfolger nicht in ihrem Haus wohnt, griff der ungeschminkte Transvestit mit einer Hand zwischen ihre Beine. Mit der anderen rieb er sein entblößtes Glied. Die Frau flüchtet in die Wohnung, sie kommt mit dem Schrecken davon.
Schnell tippten die Kriminalbeamten auf Dennis Eichmann* als Täter, von dem es im Polizeiarchiv ein Foto gibt, das den mittelgroßen, stämmigen Mann mit blonder Perücke und Minirock zeigt. Vor Gericht schweigt der 29-Jährige zu den Vorwürfen und hofft auf die Aussage seines ehemaligen Schulfreundes. Dieser gab in einem Brief an die Polizei an, der Beschuldigte habe zur Tatzeit in seiner Brandenburger Wohnung geschlafen.
"Den schleppst du jetzt nicht mehr ins Haus"
Vor Gericht berichtet der schüchterne, schmächtige 20-Jährige, der Angeklagte sei mit ihm an jenem Samstagabend durch die Rotlichtmeilen Berlins gefahren: "Ich komme aus einem 80.000-Einwohner-Dorf aus Rheinland-Pfalz, ich war halt neugierig." Anschließend hätten sich die beiden Männer gemeinsam in Eichmanns Wohnung begeben. Der Gast habe die Nacht auf der Wohnzimmercouch verbracht, während der Wohnungsinhaber im Schlafzimmer übernachtete.
"Haben Sie mal gesehen, dass der Angeklagte mit Frauenkleidung durch die Gegend fährt?", fragt der Richter. "Nein", sagt der Zeuge. "Ich würde ihm das auch nicht zutrauen." Anhand des Polizeifotos belehrt ihn der Richter eines Besseren. "Haben Sie einen tiefen Schlaf?", fragt der Richter weiter. "Können Sie ausschließen, dass ihr Freund die Wohnung verlassen hat?" Nein, das kann der Zeuge nicht. "Aber ich stufe den Herrn Eichmann so ein, dass er relativ früh zu Bett geht. Ich würde ihm nicht zutrauen, dass er die Wohnung verlassen hat." "Sie hatten ihm auch nicht die blonde Perücke und Minirock zugetraut", sagt der Staatsanwalt.
Das Gericht erfährt nun auch, dass es der Angeklagte war, der die entlastenden Angaben für die Polizei notierte. Sein Kumpel musste den Brief nur noch unterschreiben. Vier Monate später endete die Freundschaft der beiden Männer. "Hat das einen Grund?", will der Richter wissen. "Da sind Sachen von meinem Vater weggekommen", sagt der Zeuge, der eigntlich zur Entlastung bestellt war. "Da hat mein Vater gesagt, den schleppst du jetzt nicht mehr ins Haus."
"Im Moment ist es mein Ziel, Diakon zu werden"
Marie Sodenkamp fällt es zunächst etwas schwer, in dem unscheinbaren Brillenträger mit Doppelkinn den verkleideten Frauenschreck jener Februarnacht zu erkennen. "Die Augen, es könnte sein", sagt sie zögernd. Dann zeigt ihr der Richter das Polizeifoto. "Der Blick", sagt die Zeugin, "es ist der Blick!" Drei Sekunden hätte sie Eichmanns Gesicht durch das kleine Fenster ihrer Haustür gesehen, während sie sich mühte, diese gegen den Widerstand des von außen Drückenden zu schließen.
Nach dieser Aussage kann Dennis Eichmann nur noch die Flucht nach vorn antreten: Er gesteht, das heißt, sein Verteidiger erledigt das für ihn. Nur die Fragen nach seinem Beruf und seinem Einkommen muss der Angeklagte selbst beantworten. Er habe sein erstes Examen in Evangelischer Theologie abgelegt und absolviere nun sein Vikariat. "Mit dem Ziel, Pfarrer zu werden?" Deutlich schwingt ein "etwa" in der Frage des Richters. "Im Moment ist es mein Ziel, Diakon zu werden", antwortet Dennis Eichmann.
Sein Strafregister ist bunt: Diebstahl, Urkundenfälschung, Betrug, Falschaussage, Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens kommen darin ebenso vor wie Beleidigung, Exhibitionismus und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Vor einem Monat wurde der Vikar wegen Diebstahls und Urkundenfälschung verurteilt. Er hatte versucht, einem Arbeitgeber 3000 Euro zu stehlen: Während seiner Tätigkeit als Tankstellen-Aushilfe behauptete er gegenüber einer Kollegin, soeben sei die Hintertür zum Büro ins Schloss gefallen und ein Auto mit quietschenden Reifen davon gefahren. Gemeinsam "entdeckten" die beiden Tankstellen-Mitarbeiter den Diebstahl, dann brachte Eichmann das entwendete Geld in Sicherheit. Als die Kriminalpolizei bald darauf gegen ihn ermittelte, fälschte er einen Brief, dessen Unterzeichner bestätigte, sich zur Tatzeit mit dem Beschuldigten auf einem Parkplatz getroffen zu haben. Sieben Monate Haft zur Bewährung waren die Quittung.
Zwar beleidigt, "aber nur erschreckt"
Aus diesem und dem Grabscher-Urteil wird der Richter eine Gesamtstrafe bilden. Dafür werden Strafe A und B addiert, anschließend wird von der Summe ein Bruchteil abgezogen. Sechs Monate Haft fordert der Staatsanwalt für das Erschrecken der Zeugin. Plus die Strafe für den versuchten Diebstahl ergibt das für den Ankläger zehn Monate Haft auf Bewährung. Der Verteidiger erbittet einen Monat weniger, der Angeklagte bemühe sich zurzeit um einen Therapieplatz wegen seiner sexuellen Probleme. Außerdem sei Marie Sodenkamp zwar beleidigt, "aber nur erschreckt worden". Der Verteidiger weiß nichts von der Angst der jungen Frau, die sie noch Wochen danach auf dem Nachhauseweg empfand.
Ein Jahr Haft auf Bewährung, die drei Jahre dauern soll, verkündet der Richter. Er hält Eichmanns Verhalten "für unterirdisch": Anstatt die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, habe dieser seinen ehemaligen Schulfreund zur Falschaussage angestiftet, ähnlich wie er auch bei dem Tankstellen-Diebstahl vorgegangen war.
"Wer Theologie studiert, muss ja nicht unbedingt ein besserer Mensch sein", sagt der Richter, der einst das gleiche Fach belegt hatte. "Aber wer sich mit Moraltheologie beschäftigt hat, sollte die Grundlagen anständigen menschlichen Verhaltens zur Kenntnis genommen haben. Gott vergibt alles, die Menschen nicht. Ich halte sie für völlig ungeeignet für den Beruf des Diakons." Dies soll auch nicht das letzte Gerichts-Gastspiel des Theologen gewesen sein, sagt der Richter: "Für die Anstiftung zur Falschaussage werden Sie noch ein Verfahren an die Backe bekommen."
* Namen von der Redaktion geändert