Aus seiner schwarzen, an den Schultern dick aufgepolsterten Lederjacke heraus verkündet Dieter Kühnel*: "Ick sare dazu nüscht!" Keine Erklärung, warum der pensionierte Produktionsarbeiter eine junge Mutter als "Schlampe" beschimpft und geschlagen hat. Kein Wort darüber, warum er der aus Costa Rica stammenden Frau unterstellt hat, ihren zweijährigen Sohn gestohlen zu haben, "weil Ausländer das immer tun", wie er zu ihr gesagt haben soll, im März 2009.
Damals begab sich Teresita Sternberg* am frühen Abend mit ihrem Kind zur S-Bahn-Station im brandenburgischen Eichwalde, wo sie als Tanzpädagogin arbeitet. Schon auf dem Bahnsteig habe der harmlos wirkende, schmächtige Graukopf sie beleidigt. Sie bemühte sich, ihn zu ignorieren. In der Bahn setzte sich der Mann in ihre Nähe und redete auf sie ein. Immer wieder fragte er die zierliche Schwarzhaarige, wo sie den in seinem Kinderwagen sitzenden Jungen gestohlen habe. "Er sagte, er kenne solche Menschen wie mich und wolle die Polizei holen", erklärt die 39-jährige Zeugin in flüssigem Deutsch.
"Hier ist eine, die ein Kind geklaut hat!"
Während der gemeinsamen halbstündigen Fahrt wurde der Rentner immer hysterischer. Bei jeder Station stand er auf, öffnete die Tür und rief laut heraus: "Hier ist eine, die ein Kind geklaut hat!" "Ich hatte viel Angst", berichtet die Tanzpädagogin. "Mein Sohn fing an zu weinen, er hat ihn beim Schlafen gestört." Die anderen Fahrgäste hätten sich von ihr und dem alten Mann weggesetzt, einige Jugendliche amüsierten sich über die absurde Szenerie.
Kurz vor Berlin-Südkreuz entschloss sich die Lateinamerikanerin, die Bahn zu verlassen: "Das ist ein großer Bahnhof, dort ist es hell, da kann man gut Hilfe holen", erklärt sie dem Gericht. Ihr Gegner bemerkte ihre Absicht und griff nach dem Kind. "Aber ich bin die Mutter, ich habe bessere Reflexe", sagt Teresita Sternberg. Blitzschnell nahm sie ihren Sohn auf den Arm und drehte sich von dem Rentner weg. Der schlug sie auf den Oberam, trat sie in den Hintern und versuchte, sie zu drehen. "Er hat mein Kind angefasst, er wollte es aus meinen Armen, aus meiner Sicherheit nehmen", sagt die Zeugin. Die Aufregung von damals ist ihr anzumerken. Schlag und Tritt seien schmerzhaft gewesen: "Aber das Schlimmste war, dass er meinen Sohn gegriffen hat."
Endlich bieten die Fahrgäste ihre Hilfe an
Das Kleinkind fing an zu schreien, die Mutter rief nach der Polizei. Nun endlich hätten Fahrgäste ihre Hilfe angeboten. Andere hielten den auf den Bahnsteig rennenden Rentner fest und übergaben ihn der Polizei. Dort bestimmte man Kühnels Atemalkohol-Wert mit 1,5 Promille. Erstaunlich, denn weder sein Opfer noch die Beamten bemerkten bei ihm irgendwelche Ausfallerscheinungen.
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Überheblich und unfreundlich gegenüber der Polizei
Überheblich und unfreundlich sei er gewesen, aber nicht beleidigend, erinnert sich ein Polizist, der den Rentner vernahm. Kühnel habe ihm von dem gestohlenen Kind berichtet und gesagt: "Ich habe mich gewundert: Ihr Kind hat blonde Haare und blaue Augen." Das sei nicht wahr, sagt die Mutter und zeigt dem Gericht das Foto eines Kindes mit hellbraunem Haarflaum und schwarzen Augen.
Ob der Angeklagte vielleicht einen Witz gemacht habe, will der Richter wissen. "Manche Menschen haben einen eigenartigen Humor." Nein, an einen Spaß will die Zeugin nicht glauben. Nach diesem Erlebnis habe ihr Sohn nicht schlafen können, wochenlang sei er nachts nicht zur Ruhe gekommen. Noch länger dauerte es, bis ihr Kind wieder S-Bahn fahren wollte, sie hätte deshalb eine Tagesmutter engagieren müssen. "Mein Sohn spricht heute noch von Polizei", sagt Teresita Sternberg. Inzwischen weiß sie, dass sie damals die Notbremse hätte ziehen müssen.
Eine Frau an einer Bushaltestelle beschimpft
Der Richter blättert in seinen Akten: Vor vier Jahren habe es schon einmal Probleme mit Dieter Kühnel gegeben. Damals hatte er ebenfalls unter leichtem Alkoholeinfluss eine Frau an einer Bushaltestelle beschimpft und bedrängt. Doch was hat das zu bedeuten? "Ihr Verhalten gegenüber der Zeugin ist sehr merkwürdig", sagt der Richter dem Angeklagten. "Wir fragen uns, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?" Er nehme Tabletten gegen das Herz, sagt der rotgesichtige Mann mit knarrender Raucherstimme. Psychiatrisch begutachten lassen will er sich nicht, der Richter kann ihn dazu auch nicht zwingen. Er gibt lediglich preis, in Eichwalde geboren und 1963 nach Westberlin "getürmt" zu sein. Er sei verheiratet und habe zwei erwachsene Kinder.
"Wir wissen sehr wenig von ihm", sagt der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter. Vermutlich habe sich der vom Alkohol enthemmte Mann in einem situationsverkennenden Wahn befunden. Mit den dürftigen Informationen kann der Psychiater jedoch keine verminderte Schuldfähigkeit attestieren. Schulterzuckend bittet der Richter den Staatsanwalt um sein Plädoyer. Der fordert 3150 Euro (90 Tagessätze) Geldstrafe. Prompt beschwert sich Kühnel: "Das ist ein bisschen hoch!"
"So etwas Bizarres denkt sich kein Mensch aus"
Der Richter verurteilt ihn tatsächlich zu den geforderten 90 Tagessätzen, weil er aber eine geringere Rente ansetzt, muss Kühnel nur 2700 Euro zahlen. "Ich glaube der Zeugin. Das Ganze ist so bizarr, dass kein Mensch sich so etwas ausdenken würde." Eigentlich könne sich nur ein Kranker so verhalten. "Aber ohne Gutachten kann ich das nicht annehmen", bedauert der Vorsitzende. Im Übrigen sei die Geldstrafe nicht zu hoch angesichts dessen, was der Zeugin und ihrem Kind widerfahren sei. Zum Schluss empfiehlt der Richter dem Angeklagten, in Zukunft weniger zu trinken oder andernfalls sich nicht in die Öffentlichkeit zu begeben: "Das kann auch für Sie übel ausgehen, wenn Sie einmal an den Falschen geraten."
* Namen von der Redaktion geändert