Ex-Guantánamo-Häftling in Hamburg "Er kann nichts verbrochen haben"

Ayman al S. ist einer der beiden Guantánamo-Häftlinge, die nach Deutschland ausgeliefert wurden. Sein ehemaliger Mithäftling sagt im Interview mit stern.de, warum von dem Palästinenser keine Gefahr ausgehen wird.

Herr Deghayes, wie haben Sie Ayman al S. in Guantánamo kennengelernt?
Ich war für einige Monate im Jahr 2006 im Camp 1, einem Teil des Lagers mit Einzelzellen, deren Gitter nach außen offen sind. Dort habe ich Ayman das erste Mal gesehen. Meine Zelle war nur wenige Meter von seiner entfernt, die beiden Zellen dazwischen waren leer. Wir konnten gut miteinander reden, mussten noch nicht einmal schreien.

Was wissen Sie über ihn?
Er ist Palästinenser, ist aber in Saudi-Arabien aufgewachsen. Dort lebt seine Familie auch heute. Er hätte ja schon vor Jahren aus Guantánamo entlassen werden können, die Amerikaner hatten ihm schon vor meiner Entlassung 2007 eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt. Aber Saudi-Arabien hat ihn nicht einreisen lassen. Er hat Brüder und Schwestern dort, die Familie hat eine sehr enge Bindung, glaube ich. Sein Fall ist tragisch - er saß seit Jahren unschuldig auf Kuba, und als seine Unschuld endlich erwiesen war, kam er nicht frei, weil ihn kein Land haben wollte!

Was für einen Eindruck hatten Sie von ihm?
Er ist auf jeden Fall eine sehr interessante Persönlichkeit, ein Mensch, den man gern um sich hat - humorvoll, verständig. Er war ein Künstler. Heute haben sich die Dinge in Guantánamo etwas gebessert, aber damals war es unglaublich schwer, Papier zu besorgen. Und es war noch schwieriger, an Stifte oder gar Farben zu kommen. Aber er hat wunderschöne Bilder gemalt.

Aber wie konnte er malen, wenn es keine Stifte gab?
Er hat sich Süßigkeiten von den Wachsoldaten besorgt, bunte Smarties und so etwas. Er hat diese Farben für seine Bilder verwendet.

Er ist also mit den Soldaten gut ausgekommen?
Ja, sehr gut. Die besten Zellen in jedem Block sind die Zellen ganz vorn. Dort hat man die Wachen im Blick, kann mit ihnen sprechen. Deswegen suchen sich die Wachen für diese Zellen nur Insassen aus, die sie sympathisch finden. Ayman hat Englisch von ihnen gelernt, mit ihnen gescherzt - und bekam so auch die Smarties. Was eigentlich verboten war.

Konnte er auch andere Sachen organisieren?
Ayman holte sich auch Extraportionen Essen. Das war nicht einfach, denn eigentlich bekamen wir immer zu wenig zu essen. Ich glaube, das war eine Art Richtlinie - wir sollten nicht zu kräftig werden. Auf jeden Fall waren wir alle meist hungrig. Aber er hat so getan, als ob er krank sei, dann gab es manchmal eine zusätzliche Portion Reis oder Brot. Er hat dieses Essen in den Hof gestreut, durch die Gitterstäbe - für seine Vögel. Und sie kamen, zu Dutzenden. Wir hatten so wenig Kontakt zu etwas Lebendigem, zu Tieren, zu anderen Menschen. Ayman hat uns damit sehr geholfen.

Und die Wachsoldaten hatten nichts dagegen?
Die brauchten ja keinen Grund, um uns aufzumischen. Die provozierten uns sowieso ständig. Und sehr gezielt, bis wir etwas Dummes machten, damit sie sich uns dann vornehmen konnten: uns bis auf die Unterhose ausziehen, in Isolationshaft stecken und so weiter. Ayman hat selten darauf reagiert, er hat immer auf Dialog mit den Wachen gesetzt. Aber einmal war es sogar ihm zu viel, und er hat mit der Hand gegen die Gitter geschlagen. Eigentlich kein großes Ding. Andere, auch ich, haben da ganz andere Sachen gemacht. Aber Aymans Unbeherrschtheit hat gereicht, sie haben ihn abgeführt in die Einzelzellen.

Wann haben Sie Ayman wiedergesehen?
Genau weiß ich das nicht mehr, einige Zeit später. Woran ich mich aber noch erinnere: Als er weg war, kamen die Vögel und warteten vor seiner Zelle. Als sich nichts tat, kamen sie näher und schauten, was los war. Die Mutigsten hopsten näher, bis sie durch die Öffnungen in den Korridor flogen. Das war wirklich sehr, sehr ungewöhnlich. Ein oder zwei waren am Ende sogar in seiner Zelle. Sie wollten sehen, wo Ayman abgeblieben war. Ein so ruhiger und besonnener Mensch, wie kann der jemals beschuldigt werden, andere Menschen umbringen zu wollen?

Haben Sie darüber geredet, was er in Afghanistan gemacht hat, bevor er festgenommen wurde?
Nein, ich weiß nichts von seiner Geschichte, darüber haben wir nie gesprochen. Doch wenn es auch nur den kleinsten Verdacht gegeben hätte, wäre er nicht von den Amerikanern zur Freilassung eingeteilt worden. Die Amerikaner haben unser Leben auseinandergenommen. Sie haben Leute losgeschickt, um unsere Familien zu befragen, unsere Freunde. Ich habe nach meiner Freilassung erfahren, dass sie Bekannte in Flughäfen abgefangen haben, um sie über mich auszufragen. Sie hatten Briefe von mir, die ich als Zwölfjähriger geschrieben habe, sie haben Freunde getroffen, deren Namen ich nie erwähnt hatte. Wenn jemand nach einer solchen Untersuchung von den Amerikanern freigelassen wird, kann der nichts verbrochen haben.

Was glauben Sie, wie es Ayman in dieser Situation geht?
Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Aber dieser Mann saß seit neun Jahren im Gefängnis. Das ist schon eine lange Zeit für jemanden, der nicht weiß, warum er einsitzt. Ayman ist niemals wegen einer Straftat angeklagt worden. Ganz im Gegenteil: Seit mehr als drei Jahren weiß er, dass er eigentlich frei sein könnte. Das muss sehr schwer sein.

Welche Hilfe wird er in Deutschland brauchen?
Zunächst einmal sollte er ganz langsam an die Öffentlichkeit gewöhnt werden. Es werden viele Menschen mit ihm sprechen wollen, Behörden, Journalisten. Es ist wichtig, dass Menschen da sind, die ihn gut kennen. Deutschland sollte seinen Familienangehörigen Visa ausstellen, zumindest für die Anfangszeit. Mir hat sehr geholfen, dass meine Familie mich aufgefangen hat. Und dann braucht er Hilfe für ganz alltägliche Dinge. Als ich in Großbritannien ankam, habe ich Mobiltelefone nicht mehr verstanden, Computer, Internet. Man fühlt sich wie ein kleines Kind, ziemlich hilflos.

Wird er ärztliche Hilfe brauchen?
Viele Insassen haben Gesundheitsprobleme, Nieren, Herz, Gelenkschmerzen von den Fesseln - Guantánamo ist dafür geschaffen, dich auszulaugen. Vor allem sollte er bald wieder eine Aufgabe bekommen. Ein Job, auch ein Ehrenamt, gibt dem Leben einen Sinn, weil man damit mehr ist als nur der tragische Gefangene, das Opfer. Er sollte wieder seinen Teil zur Gesellschaft beitragen können, das ist meiner Meinung nach wichtiger als alles andere.

Haben Sie darüber gesprochen, was er sich für die Zukunft, für die Zeit in Freiheit wünschte?
Während ich in Guantánamo war, habe ich versucht, über die Zukunft gar nicht erst nachzudenken. Jeder Hoffnungsschimmer konnte nur zu Enttäuschungen führen und damit zur Depression. Ich habe jahrelang nichts von meiner Frau und meinem Sohn gehört. Um das zu überstehen, muss man sich abschotten. Träume von der Freiheit wurden von den Leuten benutzt, die uns befragt haben - um uns immer tiefer in die Verzweiflung zu stoßen. Wir mussten diese Gedanken verbannen, um zu überleben.

Was wünschen Sie Ayman al S.?
Er hat mir oft die Bilder seiner Neffen und Nichten gezeigt. Er selber hat keine Frau, keine Kinder, glaube ich. Er hat neun Jahre seines Lebens verloren, neun Jahre, in denen ein junger Mann eine Familie gründet, seine Karriere befördert. Ich hoffe für ihn, dass er sich diese Wünsche bald erfüllen kann und Fuß fasst in der Freiheit.

Haben Sie es geschafft, Fuß zu fassen?
Nachdem meine Frau und ich während meiner Gefangenschaft nichts voneinander gehört hatten, weil die Amerikaner unsere Briefe abfingen, konnten wir nach meiner Freilassung nicht mehr zueinander finden. Das war sehr schwer, ich habe meinen Sohn jahrelang nicht gesehen. Aber ich habe im Dezember wieder geheiratet. Und meine zweite Frau ist jetzt schwanger. Irgendwie geht das Leben weiter.

Omar Deghayes

Shaun Curry/AFP Der Libyer Omar Deghayes, 40, wurde 2007 aus Guantanamo entlassen und lebt seither in Großbritannien. Als er nach seiner Haft ins Land kam, nannten ihn britische Boulevardzeitungen "Terrorist" und "Mörder" und prophezeiten, jahrelang müsse jeder seiner Schritte überwacht werden. Heute wohnt er mit seiner Familie im englischen Seebad Brighton.

Cornelia Fuchs

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