Dieser Artikel erschien zuerst bei ntv.de.
Die Groner Landstraße 9 in Göttingen sieht aus wie eine Mülldeponie – ist aber das Zuhause von (vermutlich) mehr als 600 Menschen. Die genaue Bewohnerzahl lässt sich kaum ermitteln, denn An- und Abmeldungen erfolgen im sogenannten "Horrorhaus von Göttingen" nur selten. Auch die Miete, die beim Großteil der Mieter vom Jobcenter übernommen wird, kommt in vielen Fällen nicht beim Vermieter an. Inzwischen liegt der Rückstand bei mehr als 911.000 Euro – allein für die vergangenen zwei Jahre. Experten fordern die Stadt Göttingen angesichts des vermuteten Sozialbetrugs und der apokalyptischen Müllsituation zum Handeln auf.
Vom Vorzeigeobjekt zur Skandalattraktion "Horrorhaus"
Ende der 1970er-Jahre war der Wohnblock in bester Innenstadtlage ein Vorzeigeobjekt mit 432 Wohnungen. Nur wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt, sollte er bezahlbaren Wohnraum für viele Menschen bieten. Heute wohnen hier vor allem Sozialhilfeempfänger, ein Großteil stammt aus Rumänien. Das Haus ist regelmäßig in den Schlagzeilen: Kakerlaken, Ratten, defekte Aufzüge und Heizungsausfälle sind nur einige der Probleme. Drinnen wie draußen herrschen menschenunwürdige Zustände.
Ein Teil der Missstände geht jedoch auch auf das Verhalten einzelner Bewohnerinnen und Bewohner zurück. "Wir haben die Flachdächer der verschiedenen Gebäudekomplexe in den vergangenen 24 Monaten bereits viermal vollständig vom Müll und Sperrmüll befreit, zuletzt Ende Juli 2025", berichtet die Hausverwaltung. Die letzte Räumung kostete rund 140.000 Euro, nachdem sich Müll in einem Zwischendach entzündet und der gesamte Raum ausgebrannt war. Inzwischen stapeln sich schon wieder Sofas, Schränke, Babywindeln und anderer Unrat auf den Dächern und im Hof.
"Hygienischen Zustände sind katastrophal"
"Die hygienischen Zustände sind katastrophal, doch einigen Mietern kann man kein Umdenken vermitteln", sagt Louis Krause, der den Hausmeisterservice leitet. "In diesem Haus funktioniert vieles nicht – aber die Müllschächte auf jedem Stockwerk funktionieren." Theoretisch könne man den Abfall direkt in den Müllraum mit Müllpresse werfen. "In der Praxis fliegt er aber sehr oft aus dem Fenster." Man habe sogar erwogen, jeden einzelnen Müllwurf zu dokumentieren, um fristlose Kündigungen auszusprechen. "Aber was ist die Konsequenz? Wenn eine Familie betroffen ist, greift die Härtefallregel – die Kündigung kann nicht durchgesetzt werden."
Die Aufzüge im gesamten Objekt sind aufgrund von Vandalismus defekt, Stahltüren verbogen, Kacheln und Wände eingetreten, Stromkästen aufgebrochen. 2023 kam es zu 803 Polizeieinsätzen, 2024 zu 725. Auch 2025 bewegt sich die Zahl in einem mittleren dreistelligen Bereich. Die häufigsten Gründe: Ruhestörungen, Diebstähle, Wohnungseinbrüche, Streitigkeiten und Körperverletzungen.
Mitarbeiter müssen täglich neuen Müll und Sperrmüll wegräumen
Um der Lage wenigstens etwas Herr zu werden, verbarrikadieren Hausmeister leer stehende Wohnungen mit Spanplatten und Stahlschrauben, damit sie nicht erneut als Mülllager zweckentfremdet werden. Doch auch diese Maßnahmen greifen kaum: Die Platten werden abmontiert, Müllberge türmen sich erneut. "Der in den Wohnungen gelagerte Müll brennt hier in regelmäßigen Abständen", berichtet Hausmeister Krause. Ob durch Unachtsamkeit oder Brandstiftung, ist unklar. In manchen Fluren gibt es wegen der Brandschäden längst kein Licht und keinen Strom mehr. "Wir beschäftigen inzwischen zwei Mitarbeiter, die fünf Stunden am Tag ausschließlich Müll und Sperrmüll aus Fluren und Fluchtwegen räumen, um den Brandschutz zu gewährleisten", erklärt Hausverwalter Dominik Fricke.
Von den 432 Wohnungen verwaltet Fricke 316. Nur 161 davon sind derzeit vermietet – und 145 Mietparteien, sowie einige Mieter, die inzwischen "verschwunden" seien, haben laut seiner Aussage Mietrückstände von insgesamt mehr als 911.000 Euro, allein aus den vergangenen zwei Jahren. Dokumente, die diese Summe belegen, liegen stern/ntv vor.
Ein strukturelles Problem sieht Fricke mit Abtretungserklärungen. "Mieter, die Leistungen beziehen, können die Abtretungserklärung, die sie im Rahmen des Mietvertrags unterschrieben haben, jederzeit ohne Begründung widerrufen. Das Jobcenter überweist dann an die Mieter, und von dort findet die Miete leider oft nicht mehr den Weg zu uns."
Stadt weiß seit Monaten Bescheid – ohne Reaktion
Von 129 Bedarfsgemeinschaften, deren Miete das Jobcenter übernehme, gehe bei 98 objektübergreifend die Zahlung direkt an die Vermieter. Doch schon bei den übrigen 31 Bedarfsgemeinschaften summieren sich die ausbleibenden Mietzahlungen auf rund 250.000 Euro jährlich. Die Göttinger Oberbürgermeisterin Petra Broistedt weist jede Verantwortung von sich. Die Stadt habe nach interner Prüfung keine Hinweise darauf, dass Mieter "im großen Stil doppelte Sozialleistungen beziehen". Interne E-Mails, die ntv vorliegen, zeigen, dass die Hausverwaltung die Stadt bereits seit Monaten wegen des vermuteten Sozialbetrugs kontaktiert hat – bislang ohne Reaktion.
"Das Schlüsselwort ist politische Verantwortung. Die Stadt hat zwar nur begrenzte Möglichkeiten, in private Mietverhältnisse einzugreifen", so der Immobilienökonom Prof. Dr. Steffen Sebastian gegenüber stern/ntv, "sie hat aber sehr wohl die Möglichkeit, wenn Gesetze oder Vorschriften verletzt werden. Müll aus dem Fenster zu werfen, ist nicht nur verboten, sondern gefährlich. Hier muss die Stadt einschreiten."
Ein weiterer Faktor verschärft die Situation zusätzlich: Der Hauptinvestor der Immobilie, dem rund 65 Prozent des Objekts gehören, ist inzwischen insolvent. Damit fehlen die finanziellen Mittel, dringend notwendige Sanierungen durchzuführen oder strukturelle Missstände zu beheben. Die Insolvenz des Mehrheitseigentümers droht, die ohnehin prekäre Lage im Gebäudekomplex weiter zu verschärfen – sowohl für die Mieter als auch für die Hausverwaltung.
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