Der Polizist sitzt auf dem Zeugenstuhl, als müsse er schon wieder mit schweren Treffern rechnen. Er ist aufgeregt, fühlt sich angegriffen, fast genau so wie vor knapp fünf Monaten, als er plötzlich mit höchstens 50 Kollegen einem Mob aus 600 Hooligans gegenüber stand. Diesmal hat er nicht mal einen Helm auf und gibt zu, dass es "drunter und drüber" ging bei diesem Einsatz. Immerhin hagelt es diesmal, bei der Verhandlung im Leipziger Amtsgericht, keine Steine, sondern nur Fragen.
Er sind immer die gleichen Fragen zu der immer gleichen Person. Ja, "die Person" habe er dabei beobachtet, wie sie immer wieder Steine auf ihn und seine Kollegen warf. Den Angeklagten, der links von ihm auf der Bank sitzt, nahm er später dafür fest. Nur so viel kann er sagen: Am 10. Februar diesen Jahres hätten der Angeklagte und "die Person" zumindest exakt die gleichen Klamotten getragen: "graue Mütze, hellblaues Kapuzenshirt und dunkle Bomberjacke". Aber ob "die Person" auch der Angeklagte ist, das kann er nicht hundertprozentig bestätigen.
Steine zähle man in dieser Situation nicht
Ob sie nun zwei- oder zehnmal warf - keine Ahnung: In so einer Situation zähle man die einzelnen Steine nicht, erklärt er der Vorsitzenden, sondern achte eher darauf, möglichst keinen abzubekommen. Die "hellblaue Kapuze" habe er sich gemerkt, weil "diese Person" besonders aggressiv auftrat und oft geworfen hat, "jedenfalls mehr als einmal".
Die Zweit-Mannschaft von Erzgebirge Aue hatte gerade den 1. FC Lok Leipzig in dessen Stadion mit 3:0 aus dem Viertelfinale um den Sachsen-Pokal geschossen. Der Schiedsrichter soll daran nicht ganz unschuldig gewesen sein. Dazu der alte Hass auf die "Juden Aue", wie die Gäste auch diesmal minutenlang beschimpft wurden, beides eine Art "Tradition" noch aus DDR-Oberligazeiten. Aber um all das ging es weder an diesem Winternachmittag, noch geht es darum jetzt vor Gericht. Es geht um viel mehr.
Verabredung zum Aufstand
Das Leipziger Amtsgericht versucht nichts weniger, als ein Stück vom Gewaltmonopol zurückzuerobern, das der Staat an diesem 10. Februar bei den schwersten Fußballrandalen seit der Wiedervereinigung an die Leipziger Hooligans verloren hat. Selbst bei Lok, wo sich gewaltbereite Fans besonders heimisch fühlen und immer wieder für "Schlag-Zeilen" sorgen, rotten sich 600 nicht zufällig zusammen. Die Szene munkelt von einer Verabredung und nutzte ihre Übermacht offenbar ohne weiteren Anlass eiskalt aus: Nach ein paar Schneebällen regnete es auf einer Kreuzung nahe des alten Bruno-Plache-Stadions plötzlich Brandsätze und Pflastersteine auf die Polizei. Bis Verstärkung kam, konnte sich der kleine Haufen nur mühsam hinter Polizeifahrzeugen verschanzen.
Die Angreifer machten aber auch danach keinen Unterschied zwischen "Bullenschweinen", den Tieren einer Reiterstaffel oder Hundeführern. Bei einem Polizeiwagen rissen sie die Autotür auf, drückten dem Beamten eine Schreckschusspistole auf den Oberschenkel und danach ab. Ein Zivilbeamter, der sich als solcher outete, als ein Chaot von ihm Feuer für eine Brandstiftung verlangte, wurde danach von 20 Mann durch die Prager Straße gehetzt und rettete sein Leben nur knapp mit einem Schuss aus der Dienstwaffe. "Wir machen dich platt", hatten sie ihm gedroht.
Nicht nur "ä bar Beklobbde"
Der sächsische Innenminister sprach von "italienischen Verhältnissen". Insgesamt zählte man hinterher 36 verletzte Polizisten, zum Teil mit mehreren ausgeschlagenen Zähnen, Schäden an Polizeifahrzeugen in Höhe von knapp 60.000 Euro, dazu kaputte Straßenbahnen, verbrannte Mülltonnen und etliche verängstigte Anwohner, die sich "im Bürgerkrieg" wähnten - vom Schaden für den Club, der immerhin direkter Nachfolger des ersten Deutschen Meisters sein will, gar nicht zu reden.
Selbst dessen Vorsitzender Steffen Kubald - der sonst lieber von "ä bar Beklobbden" redet, die es überall gebe, und gern an der Legende bastelt, dass er früher ja selbst Hooligan war - wollte im ersten Moment alles hinschmeißen. Dabei hat er seinen Verein nach zwei Insolvenzen in nur drei Jahren und fast aus eigener Kraft von der elften Spielklasse zum diesjährigen Aufstieg in die Landesliga geführt. Nur redet darüber keiner.
14 Anklagen nach Randalen
Stattdessen steht nun bis in den Herbst hinein beinahe wöchentlich ein Lok-Fan wegen schweren Landfriedensbruchs und versuchter gefährlicher Körperverletzung vor Gericht. Insgesamt 28 Ermittlungen wurden dazu geführt, was bisher für 14 Anklagen gereicht hat. Ein 22-jähriger Zeitsoldat bekam die ganze Härte des Gesetzes als erster zu spüren und als Belohnung für sein Geständnis ein Jahr auf Bewährung. Die hellblaue Kapuze dagegen streitet alles ab.
Thomas B., 33, sei zwar beim Spiel gewesen, erklärt seine Anwältin vor Gericht, aber hätte im Stadion noch ein Bier getrunken, als es Stress vor den Toren gab. Überhaupt sei er noch nie in Gewalttätigkeiten beim Fußball verwickelt gewesen, zudem Familienvater und nicht der einzige Lok-Fan mit einem hellblauen Kapuzenshirt.
"Wie hell war dieses Blau denn genau", will die Richterin noch einmal wissen, und der Polizist antwortet: "Viel heller als das normale Blau von Lok, also das der Vereinsfarben." Die Richterin räumt ein, kein Lok-Fan zu sein: "Also himmelblau?" Der Polizist wiegt den Kopf: "Noch leuchtender, greller - babyblau würde ich sagen."
Farbvergleich im Gerichtssaal
Der Pulli einer DPA-Journalistin im Zuschauerraum kommt dem Farbton ziemlich nahe. Die Frau dient danach auch allen anderen Zeugen als Vergleich und kann im Grunde froh sein, dass sie damals nicht selbst verhaftet wurde. Denn mehr Indizien werden es auch nach mehreren Stunden Beweisaufnahme nicht: graue Mütze, hellblaue Kapuze, dunkle Bomberjacke.
In diesem Aufzug, dazu noch mit einer typischen Bauchtasche, die jeder anständige Hooligan wie ein Känguru vor sich her trägt, will "die Person" auch noch ein zweiter Polizist erkannt haben, als die Beamten etwa 20 Minuten nach der Straßenschlacht durch die Gegend streiften, um vielleicht doch noch einen zu erwischen. Sie sprangen aus den Autos und nahmen "die Person" fest, die seitdem auch Personalien hat, nämlich die von Thomas B.
Geordnete Festnahme von Thomas B.
Der wehrt sich nicht gegen zehn bis zwölf Polizisten und hält das heute für den besten Beweis seiner Unschuld. "Außerdem war ich fast zu Hause." An Ohrfeigen können sich die Beamten - anders als B. - nicht erinnern. Im Gegenteil: Die Festnahme sei geordnet verlaufen, B. sei sehr gefasst gewesen und ruhig. Bis zum nächsten Mittag sitzt er in Gewahrsam. Es ist der Geburtstag seiner Freundin, die auf ihn wartet und stattdessen Besuch von der Kripo bekommt. Ob er öfter gewalttätig ist, wollen die Beamten wissen.
"Sehe ich etwa so aus?!", fragt Thomas B. in einer Verhandlungspause. Das natürlich nicht, aber er sieht auch nicht gerade aus wie kein Hooligan: Statt seines babyblauen Lok-Pullovers trägt er an diesem Tag ein babyrosa Hemd. Über den breiten Schultern steckt in jedem Ohr ein dicker Ring. Er mag Tattoos und ziemlich kurze gesträhnte Haare. Und im Grunde muss das Gericht die Frage beantworten: Darf man einen Menschen nach solchen Äußerlichkeiten festnehmen oder gar verurteilen?
Freispruch trotz "gewisser Indizien"
Auf Polizeivideos taucht Thomas B. nirgendwo erkennbar auf, dafür etliche hellblaue Jacken mit Kapuze. Am Ende weiß auch der Staatsanwalt nicht mehr als bei Niederschrift der Anklage - die immerhin bei Gericht zugelassen wurde. Die Staatsanwaltschaft beantragt Freispruch.
Allein die Richterin gibt nicht so schnell auf, erinnert Thomas B. noch mal an "gewisse Indizien für seine Täterschaft", die graue Mütze zum Beispiel und das hellblaue Kapuzenshirt, bevor sie ihn endgültig frei spricht. "Und so leid es mir für die Beamten tut", sagt sie, "wahrscheinlich muss man immer gleich vor Ort mit aller Härte gegen diese Gewalttäter vorgehen."
Da nickt sogar Thomas B., umarmt seine Freundin und sagt: "Ich freue mich schon auf die neue Saison."