Madrid Heiliger Krieg gegen die Tochter

Von Daniela Horvath und Barbara Platsch
Jamila Ben Salah hat bei den Anschlägen im März 2004 in Madrid ihr einziges Kind Sanae verloren. Nun kämpft sie um ihren Mann, denn der ist angeklagt, den Terroristen geholfen zu haben.

Es geschah in einer Verhandlungspause. Plötzlich sah Jamila die Blonde auf sich zusteuern. "Du Stück Scheiße!", keifte sie hasserfüllt. "Das sind deine Leute, die so was anrichten!" Jamila Ben Salah wurde starr vor Schreck, vor Schmerz und Wut. Die Frau, die sie da öffentlich beschimpfte, hatte einen Angehörigen verloren beim schlimmsten Attentat, das Spanien je erlebt hat. Zehn Bomben waren am 11. März 2004 in vier Madrider Vorortzügen explodiert und hatten 191 Menschen in den Tod gerissen. Radikale Islamisten werden für die Anschläge verantwortlich gemacht. 28, die meisten von ihnen Marokkaner, standen seit Mitte Februar in der spanischen Hauptstadt vor Gericht.

Auch Jamila ist Marokkanerin und gläubige Muslimin. Sie trägt das Kopftuch streng über die schwarze Haarhaube gebunden, lange Hosen und einen Mantel. Oft verfolgte sie die Verhandlung in der ehemaligen Messehalle, die für Großprozesse zum Gerichtssaal umgebaut worden war. Auch Jamila Ben Salah hat einen Menschen verloren an jenem Tag des Terrors: Sanae, 13 Jahre, ein schönes, hochgewachsenes, fröhliches Mädchen. Ihr einziges Kind.

Sie kann nicht in Ruhe trauern

Aber die Marokkanerin kann nicht in Ruhe trauern. Die offene Anfeindung vor Gericht ist nur eine neue Form der Ausgrenzung und des Argwohns, die sie seit dem Morgen des 18. Juni 2005 verfolgen. Gegen vier Uhr früh hatte ein Einsatzkommando der Guardia Civil ihre kleine Wohnung im Stadtteil Canillas gestürmt, sie auf den Boden gestoßen, ihr schwere Stiefel in den Rücken gerammt und Abdenneri Essebbar abgeführt, den Mann, mit dem Jamila sieben Monate vor den Bombenanschlägen in zweiter Ehe getraut worden war. Sanaes rundlicher Stiefvater, den die Kleine spöttisch "el gordo", den "Dicken", nannte, sitzt seither in Untersuchungshaft. Der 42- Jährige steht in Verdacht, zum Umfeld der Täter des 11. März zu gehören. Seither lebt Jamila mit diesem Zweifel, der fast schlimmer ist als ihre Trauer um Sanae und der sie "krank macht im Kopf und im Herzen": Hat ihr Mann von den Plänen der Attentäter im Namen Allahs gewusst? Hat er gar den Tod seiner eigenen Stieftochter als Opfer im "heiligen Krieg" billigend in Kauf genommen?

Jamila Ben Salah ist 47. Eine kleine, stämmige Frau mit dunklen Augen, makelloser Haut und robustem Gang. Sie hält auf sich, ist einfach, aber geschmackvoll gekleidet. Sie ist eines von zwölf Kindern einer Berberfamilie aus dem Rif-Gebirge, wo es raue Kämpfer, bestes Haschisch und kaum legale Arbeit gibt. Aufgewachsen im Chaos der Hafenstadt Tanger, wohin die Eltern aus der Armut der Bergregion flohen, hat sie früh gelernt, sich in Marokkos Macho-Welt durchzuschlagen - und ihre Gedanken, ihre Gefühle dabei so penibel zu verbergen wie ihr Haar. Einzig die bis aufs Fleisch abgenagten Fingernägel lassen eine Ahnung vom Zustand ihres Inneren zu. "Ich habe im Leben das schwarze Los gezogen", sagt sie. Sie sagt es nüchtern und ohne Selbstmitleid.

Vor der Schmach flüchtet sie nach Spanien

Als sie mit Sanae im vierten Monat schwanger ist, wird sie von ihrem ersten Ehemann wegen einer anderen Frau verlassen, damals ist sie 30. Vor der Schmach flüchtet sie mit dickem Bauch nach Spanien, wo sie sich als Putzfrau durchschlägt. Im November 1990 bringt sie in einem Madrider Krankenhaus das Kind ihrer verlorenen Liebe zur Welt. "Sanae hat alles von ihm. Fast gar nichts von mir."

Sie hat sich das Kind so sehr gewünscht. Doch um sie beide durchzubringen, muss Jamila ihre Tochter in den ersten fünf Jahren in ein Madrider Kinderheim geben, dann für ein paar Jahre zu einer Pflegemutter, während sie sich als Haushälterin verdingt und nachts am Flughafen Barajas Flugzeuge schrubbt. Nur die Wochenenden haben die beiden für sich - und die Ferien in Marokko bei den Großeltern. Bei jedem Abschied liegen sich Mutter und Tochter unter Tränen in den Armen. Sanaes Betteln wird drängender. "Mama, bitte, lass mich bei dir wohnen!"

Der Bruder entpuppt sich als Tagedieb

2000 holt Jamila zwei jüngere Geschwister aus Tanger nach, Bruder und Schwester sollen sich um Sanae kümmern, wenn sie auf Arbeit ist. Doch Fatiha, die Schwester, heiratet einen Landsmann und zieht schon bald mit ihm in die Immigrantenstadt Alcalá de Henares vor den Toren Madrids. Der Bruder entpuppt sich als Tagedieb. Wieder platzt Jamilas Traum vom halbwegs geordneten Familienleben.

Abdenneri Essebbar lernt sie kennen, als sie im Sommer 2003 zur Beerdigung einer Schwester nach Tanger reist. Eine Nachbarin fädelt die Begegnung ein: "Unser Freund Abdou ist ein guter Mann. Er ist geschieden und will mit einer reifen Frau noch mal neu anfangen." Jamila trifft ihn in einem eleganten Café an Tangers Uferpromenade. Essebbar bedrängt sie von Anfang an: "Du bist ein Geschenk Gottes. Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen." Doch Jamila ist skeptisch. Der Mann, so sagt er, hat zwei kleine Söhne. Jamila weiß, was es in Marokko für eine Mutter bedeutet, verlassen zu werden. Sie will Bedenkzeit, reist nach Madrid zurück - aber der Mann verfolgt sie mit Anrufen: "Lass uns heiraten! Hol mich zu dir!"

"Die Liebe wird wachsen"

Jamila bleibt misstrauisch. Will er sie, die fünf Jahre Ältere, nur wegen der Einreisepapiere ins gelobte Spanien? Sanae gibt schließlich den Ausschlag: "Mama, heirate ihn, wenn du ihn magst! Dann haben wir endlich einen Mann im Haus, der uns beschützt." Ihr Kind spricht aus, was Jamila sich im Stillen schon lange wünscht. Sie findet Abdou sympathisch. "Die Liebe", redet sie sich ein, "wird mit der Zeit wachsen."

Am 16. August 2003 heiraten die beiden in Tanger, schon am 27. Oktober kann Essebbar nach Madrid übersiedeln. Zu dritt teilen sie sich ein Zimmer in der Wohnung von Landsleuten. Die Enge tut der Jungfamilie nicht gut. Immer öfter verbringt Sanae ihre Wochenenden lieber bei Jamilas Schwester Fatiha in Alcalá de Henares, 34 Zugminuten von Madrid entfernt. "Die beiden haben sich gut verstanden, viel miteinander gelacht", erzählt Jamila, und ganz plötzlich, dieses eine Mal nur, steigen ihr Tränen in die Augen. "Ich war froh, wenn sie in fröhlicher Gesellschaft war." Ihr Kind ist zu einem hübschen Teenager herangewachsen, besucht ein angesehenes Gymnasium in Madrid. Sanae liebt ihre Banknachbarin Carla und die Ausflüge zum Ponyreiten und Paddeln mit der Klasse, sie findet Schmachtfetzen wie "Titanic" toll und Iker Casillas, den Torwart von Real Madrid. "Lass mich bei der Tante wohnen, bis ihr eine passende Wohnung habt", bittet sie die Mutter. "Ich bin jetzt alt genug, ich kann auf mich aufpassen."

Am 1. März 2004 kauft Jamila der 13-Jährigen eine Monatskarte für den Pendlerzug von Alcalá zum Madrider Bahnhof Atocha. Jeden Morgen nimmt Sanae nun den Zug 21435, Abfahrt 7.10 Uhr, Ankunft 7.44 Uhr, meist hockt sie auf einem der Klappsitze gleich beim Einstieg. Am 11. März klingelt Jamilas Handy kurz vor acht. Carla ist dran, die wie jeden Morgen in Atocha auf die Schulfreundin gewartet hat. "Sie ist nicht gekommen", schluchzt die Kleine, "ein Zug ist explodiert." Für Jamila beginnt eine albtraumhafte Odyssee durch die Krankenhäuser Madrids auf der Su che nach ihrer Tochter. Erst eineinhalb Tage später wird Sanae mithilfe ihrer Monatskarte und der Halskette mit dem kleinen Silberhai unter den 67 Toten identifiziert, die im Vorortbahnhof El Pozo ihr Leben verloren haben, als um 7.38 Uhr zwei ferngesteuerte Bomben in den Wagen 4 und 5 des Zugs aus Alcalá hochgingen.

"Wir konnten nicht anders"

267.000 Euro hat Jamila als Entschädigung für ihr totes Kind vom spanischen Staat bekommen. Für marokkanische Verhältnisse ist sie jetzt eine reiche Frau. Die Anwälte der größten Opfervereinigung "Asociación 11-M Afectados del Terrorismo" haben sich um die Zahlungen an betroffene Mitglieder gekümmert. Ihre Psychologen helfen, das Trauma zu verarbeiten.

Doch nach der Verhaftung ihres Mannes wird Jamila per Telegramm aus der Organisation verbannt. "Wir konnten nicht anders, solange der Verdacht gegen ihren Mann besteht", sagt Vorstandsmitglied Jesús Castanedo, "das war den anderen Angehörigen nicht zuzumuten." Jamila wird jetzt von einem der beiden anderen Opfervereine betreut, die im Dunstkreis der konservativen Volkspartei (PP) angesiedelt sind, die immer noch an der Legende stricken, baskische ETA-Terroristen seien für das Attentat verantwortlich. Und die es immer noch nicht verwunden haben, dass die Bush-freundliche PP bei der Wahl kurz nach den Anschlägen nicht wieder an die Regierung kam.

Unter Schock

Jamila lebt nach der Verhaftung ihres Mannes fast ein Jahr wie "unter Schock". Damit sie Schlaf findet, erhöht sie die Dosis der Beruhigungsmittel, die sie seit Sanaes Tod nimmt. Und sie geht regelmäßig zum Freitagsgebet in die größte Madrider Moschee, weil sie sich in der religiösen Gemeinschaft besser aufgehoben fühlt als draußen im spanischen Alltag. Jede Woche besucht sie ihren Mann im Madrider Gefängnis Soto del Real, immer wieder bedrängt sie ihn, die Wahrheit zu sagen. Er hat sie schon oft hintergangen, hat ihr ein drittes Kind verschwiegen, das seine Ex- Frau inzwischen zur Welt brachte, hat heimlich ihr Geld abgezweigt für seine alte Familie. Doch Essebbar beteuert seine Unschuld: "Wir können wieder glücklich werden, wenn ich freikomme. Du musst mir glauben."

Jamila hat sich ihre eigene Version zurechtgelegt, eine Mischung aus der Verschwörungstheorie ihrer PP-nahen Betreuer und ihrem verbissenen Unschuldsglauben. Kann es nicht doch die ETA gewesen sein - oder gar "etwas Großes, Politisches, was man nie herausfinden wird?" Sie redet sich ein, dass die Attentäter "Kleinkriminelle" sind, "die nicht aus religiösen Gründen getötet haben".

Abhörprotokolle, auf denen er Kampflieder für den "Dschihad"

Es fällt ihr schwer, als Wahrheit gelten zu lassen, was im Haftbefehl steht: dass ihr Mann verdächtigt wird, zur Terrororganisation "Islamische Gruppe der Kämpfer Marokkos" zu gehören. Er soll mitgeholfen haben, einem flüchtigen Attentäter ein "sauberes" Handy zu beschaffen und enge Kontakte zu Landsleuten gepflegt haben, von denen man Fingerabdrücke in einer der Attentäterwohnungen fand. Von dem es Abhörprotokolle gibt, auf denen er mit einem dieser Freunde Kampflieder für den "Dschihad" intoniert und ihn zum Selbstmordattentat im Irak ermutigt - ein Schritt, der für ihn, Abdou, wegen "familiärer Belastungen" schwierig sei.

Jamila klammert sich an ihre eigene Wahrheit, weil die gegen Zweifel und Schuldgefühle hilft - und weil sie ihren Mann noch braucht für einen Neuanfang. Die Familie, die Medien, alle drängen sie, sich von ihm loszusagen. Vom Geld für ihre tote Tochter hat sie schon über 6000 Euro an Abdous Anwalt bezahlt und zahlt weiter. Sie hat sich für 106 000 Euro eine kleines Apartment im Arbeiterviertel Vallecas gekauft und im marokkanischen Grenzgebiet nahe der spanischen Enklave Ceuta ein geräumiges Ladengebäude mit Wohnung. Dort will sie leben und eine eigene Süßwarenbäckerei eröffnen, wenn Essebbar in ein paar Jahren freikommt.

"Ich muss dieses Kind haben"

Und wenn nicht? Dann wird sie ohne ihn weitermachen, "dann ist das Vorsehung, von Gott gewollt wie der Tod Sanaes". Sie will noch ein Kind von Abdou. Die zweite Chance auf ein normales Frauenleben. Seit Mitte Februar unterzieht sich Jamila einer Hormonbehandlung. Sie steht kurz vor den Wechseljahren und weiß, dass wohl mehrere Anläufe nötig sind, um durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Die Richter haben eine Samenspende ihres Mannes bewilligt. Nur von ihm darf sie nach den strengen Regeln ihres Glaubens ein neues Kind empfangen. Gut 7000 Euro kostet die Prozedur, doch Jamila ist besessen von dem Wunsch nach einer Schwangerschaft: "Ich hatte nur Unglück mit den Männern. Ich muss dieses Kind haben, ganz für mich allein. Dem ich all die unerfüllte Liebe geben kann, die noch in mir ist." Sie hat geträumt, dass es ein Junge wird. "Inschallah." So Gott will.

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