Das Letzte, was man von Drazen D. hört, ist dieses seltsame Geräusch. Das Kratzen seiner Fußfesseln auf dem Steinfußboden, als er aus dem Saal des Landgerichts Rottweil abgeführt wird.
Es ist Dienstag, der 26. Juni 2018, die Richter haben entschieden: lebenslänglich wegen Mordes, bei besonderer Schwere der Schuld. Drazen D. hat das Urteil an Ort und Stelle angenommen. Es ist vorbei.
Für Drazen D.
Weinen in Wellen
"Für meine Mandantin geht die Aufarbeitung jetzt erst los", sagt Wido Fischer, Anwalt der Nebenklägerin Katerina B. Da ist sie schon aus dem Gerichtssaal geflüchtet. Fast eineinhalb Stunden lang hat die junge Frau dem Vorsitzenden Richter zugehört, manchmal hielt sie die Hand vors Gesicht, um sich zu schützen vor den Blicken des Angeklagten, doch der starrte meist ins Leere.
Katerina B., 31, ist die Frau, die Drazen D. überleben ließ – während er die Menschen, die sie liebte, ermordete.
"Nicht fallen", sagt Katerina B. "Ich versuche, nicht zu fallen." Sie sitzt jetzt im Besprechungsraum ihres Anwalts, ein Glas Wasser vor sich. "Wissen Sie, das kann man nicht beschreiben, wenn man sein Kind verliert, und das kann auch keiner verstehen." Sie spricht leise, schnell und präzise. Sie spricht gegen das Weinen an, es kommt in Wellen. Sie fängt sich, wenn ihre Stimme versagt. Nicht fallen.

Der 14. September des vergangenen Jahres ist Darios erster Schultag. Katerina B.s sechsjähriger Sohn macht sich fein. Er trägt sein neues Hemd. Die Mutter muss ihm helfen, die Frisur zu richten, kein Härchen darf an der falschen Stelle sein. Stolz trägt er seine Schultüte vor sich her und eine Rose für seine Klassenlehrerin.
Nach der Feier ist er glücklich und aufgekratzt. Er habe schon ein paar Freunde gefunden, erzählt er seiner Mutter. Ein paar Stunden später lassen sie in ihrer neuen Wohnung in Villingendorf bei Rottweil zu fünft den Tag ausklingen. Da ist Anatolij, 34, der neue Lebensgefährte der Mutter, im kommenden Jahr wollen sie heiraten. Und da ist Vera, eine Cousine von Anatolij, mit ihrer dreijährigen Tochter Mia*. Die Kinder schauen im Wohnzimmer einen Film, die Erwachsenen rauchen und plaudern auf der Terrasse.
Der Mann kommt aus dem Garten, aus der Dunkelheit, er hat etwas in der Hand, von dem Katerina B. zunächst glaubt, es sei ein Stück Holz. Es ist eine Waffe aus dem ehemaligen Jugoslawien mit abgesägtem Lauf. Der Mann ist ihr Ex-Freund Drazen D. Er sagt nur: "Schönen Abend" – und schießt. Erst auf Anatolij, dann auf Vera.
Mord hätte sich verhindern lassen
Die kleine Mia schreit, rennt ins Bad. Sie wird später von der Polizei gefunden, zusammengekauert in der Dusche. Drazen D. geht an Katerina B. vorbei ins Wohnzimmer. Anatolij liegt auf den Steinplatten der Terrasse. "Renn, hol die Polizei!", ruft der Sterbende.
Katerina B. rennt.
Sie stolpert durch die Dunkelheit der Gärten. Hört einen Schuss. Und noch einen. Und noch einen.
Fünf Tage später stellt sich Drazen D. der Polizei. Er hat sich im Wald unter Blättern und Zweigen versteckt. Er wirkt erschöpft, aber zugleich ruhig. Er sagt: "Ich bin der, den ihr sucht." Drei Menschen sind tot. Anatolij R., Vera P. und der Junge, Dario.

Die Rekonstruktion des Verbrechens dauert Monate. Eine wichtige Frage behandelt die Staatsanwaltschaft gesondert, in einem jetzt beginnenden Ermittlungsverfahren gegen mehrere Polizisten und Mitarbeiter des Jugendamts. Es geht darum, ob sie eine Mitverantwortung für die Tragödie haben. Ob sich feststellen lässt, was Anwalt Fischer der Polizei und dem Jugendamt in Rottweil vorwirft: "ein erschreckendes Maß an offensichtlicher Gleichgültigkeit". Es wäre falsch zu sagen, dass sich der Mord hätte verhindern lassen, betont Fischer. "Aber es wurde noch nicht einmal der Versuch unternommen."
Katerina B. stammt aus Lettland. Sie arbeitete zunächst als Zimmermädchen in Großbritannien, dann als Au-pair in Deutschland. Am Bodensee lernte sie Hartmut B.* kennen, sie war 20, er 52. Sie heiratete ihn. Der Ehemann betrieb einen Swingerklub. Katerina bediente an der Bar und putzte.
"Rühr-mich-nicht-an-Mädchen"
Kein Milieu, das Katerinas Eltern gefallen hätte. Die Familie ist katholisch, Vater und Mutter haben sie streng und liebevoll zugleich erzogen. Doch Katerina B. verheimlichte nicht, wie sie lebte. Sie lud ihre Eltern nach Deutschland ein, stellte ihnen ihren Mann vor, zeigte ihnen den Klub. Sie habe sich sauber gefühlt, sagt sie heute. Die Gäste seien nett zu ihr gewesen. Sie war die Frau des Chefs, die "kleine Chefin". "Keiner hätte sich getraut, mich blöd anzumachen."
Niemals habe sie sich prostituiert, sagt auch ihr damaliger Ehemann vor Gericht. "Sie war ein Rühr-mich-nicht-an-Mädchen." Ihren Eltern erklärte Katerina selbstbewusst: "Ich will so leben, denn ich bin hier glücklich. Wenn ihr mich liebt, müsst ihr mich verstehen." Die Eltern verstanden.

Leider, so sieht es Katerina im Rückblick, habe sie sich drei Jahre später verliebt. In Drazen D., einen Kroaten, gut 20 Jahre jünger als ihr Mann, er arbeitete bei einer Autofirma als Fahrzeugpfleger. Gut aussehend fand sie ihn, sportlich, witzig. Und dominant. "Vielleicht war es diese Männlichkeit, die mir fehlte." D. erzählte ihr vom Stress mit seiner Frau, die ihn verlassen habe, und davon, wie sehr er seine Kinder vermisse, die sie ihm vorenthalte. "Ich hatte Mitleid mit ihm. So ein toller Mann, wie konnte sie ihn nur verlassen?"
Ehemann Hartmut arbeitete viel. Kinder hätten nicht in seine Lebensplanung gehört, sagt Katerina B. Sie aber wünschte sich Kinder. Es war kein offener Konflikt, eher eine Sehnsucht. Sie beichtete ihrem Mann, dass sie sich verliebt habe.
"Wir haben deshalb nicht gestritten", sagt Hartmut B. im Gerichtssaal. Er ist heute ein hagerer Mann mit unsicherem Schritt, der etwas hilflos wirkt. "Ich war ja tolerant", sagt er.
Herzensgute Frau
Als Katerina B. im Sommer 2010 von Drazen D. schwanger wurde, unterstützte der Ehemann sie weiter. Er finanzierte ihren Führerschein, er zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und zahlte trotzdem die Miete. "Sie ist da in etwas reingerutscht", sagt er, sie sei "eine herzensgute Frau". Er blieb auch in der folgenden Zeit ihr Ratgeber und Vertrauter. Doch Drazen D. war extrem eifersüchtig. Er habe einen Hass gehabt auf den Ehemann, sagt Katerina, er habe nicht gewollt, dass sie im Klub arbeitete, habe gedroht, er werde ihr "das Kind aus dem Bauch schneiden". Am 31. Mai 2011 wurde Dario geboren. Als er wenige Monate alt war, schleifte Drazen D. seine Partnerin an den Haaren durchs Zimmer, schlug sie mit Fäusten, würgte sie. "Ich dachte", sagt Katerina B., "dass mein Leben vorbei ist. An diesem Abend hat er gezeigt, dass er keine Grenzen kennt." Sie lag auf dem Boden, sie sah ihr Kind im Stubenwagen, es schlief. Sie betete, dass es nicht schreien möge. Erst als er, volltrunken, eingeschlafen war, flüchtete sie mit dem Kind in ein Frauenhaus.
Doch nach wenigen Tagen kehrte sie zu Drazen D. zurück.
"Es ist mir peinlich", sagt sie. Sie sitzt da, im Besprechungsraum ihres Anwalts, und knetet ihre Finger. Sie habe zwölf Jahre die Schule besucht, sie habe eine gute Erziehung genossen. Sie frage sich das selbst: Warum hat sie sich auf diesen Mann eingelassen? Die Antwort ist: "Ich habe ihn geliebt. Und gehofft, dass er sich ändert."
Aber schon die Vorgeschichte ließ ahnen – er änderte sich nicht. Bereits am 31. Oktober 2010 attackierte Drazen D. auch den Ehemann. Er schlug mit dem Stiel eines Küchenbeils auf ihn ein, würgte ihn und schmetterte ihm eine Metallstange auf den Kopf. Schwer verletzt kam Hartmut B. ins Krankenhaus. "Sorg dafür, dass er keine Strafe kriegt", bettelte Katerina B. ihren Mann an. Denn wenn Drazen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werde und irgendwann rauskomme, dann sei sie "fertig".
Der Ehemann wollte daraufhin die Anzeige zurückziehen. Zu seiner Frau habe er gesagt: "Ich wollte dir nur helfen. Aber wenn du so blind bist, dann leb dein Leben, aber zieh mich da nicht mehr rein." Der Staatsanwalt klagte Drazen D. wegen gefährlicher Körperverletzung an. Er kam mit zehn Monaten auf Bewährung davon.
"Papa, nicht machen!"
"Irgendwann war es keine Liebe mehr, nur noch Angst", sagt Katerina B. Das Einzige, was sie noch mit ihm verbunden habe, sei Dario gewesen. Mit dem Kind habe er Quatsch gemacht, Fußball gespielt, gelacht. "Dario hat ihn geliebt", sagt sie. Ihrem Sohn zuliebe habe sie den Mann ertragen.
Auch Drazen D. will Dario geliebt haben. Seine Facebook-Seite ist voll mit Familienfotos. Katerina B. sagt, sie hasse diese Inszenierung einer vorgeblich glücklichen Familie, sie bat Facebook, die Bilder zu löschen. Aber es sei nichts passiert.
Dass etwas nicht stimmte mit Drazen, das fiel nicht nur ihr auf. Von 2012 an war er mehrfach in der Psychiatrie. Er machte einen Alkoholentzug, ließ sich psychiatrisch untersuchen. Die Ärzte attestierten ihm eine "kombinierte Persönlichkeitsstörung", er sei instabil und impulsiv zugleich, er habe einen Hang zum Verfolgungswahn, neige dazu, andere zu manipulieren. Wann immer etwas schieflief, suchte er die Schuld bei anderen.
Was später im Prozess zutage treten sollte, zeigt, dass Drazen D. auch schon früh gefährlich wurde. Seine Ex-Frau, über die er sich bei Katerina B. beklagt hatte, schilderte die neun Jahre ihrer Ehe als "Horror". Bereits 2003, nach einem Jahr, habe er sie beschimpft und geschlagen. Sie zeigte ihn nicht an, aus Angst, und verzieh ihm immer wieder. In einer Januarnacht des Jahres 2010 habe er sie gezwungen, vom Balkon zu springen, damit er "sich die Hände nicht schmutzig machen muss". Sie habe in der Ecke des Balkons gekauert, gebettelt um Gnade. Der damals dreijährige Sohn musste alles mit ansehen, er rief: "Papa, nicht machen!" Aber D. ließ nicht nach. Seine Ex-Frau kletterte schließlich über die Brüstung. Blieb an der Weihnachtsdekoration hängen. Er zog sie wieder hoch.
Als der Junge bitterlich weinte, sagt er zu ihr: "Schau, was du gemacht hast!" Sie nutzte die erste Gelegenheit, um mit den Kindern ins Frauenhaus zu fliehen. Später zog sie in ein anderes Bundesland, hielt ihre Adresse geheim. Trotzdem habe er sie zunächst täglich angerufen und bedroht. Er werde die Kinder umbringen, "damit du leidest". Sie vernichtete die SIM-Karte, brach den Kontakt ab. "Seitdem habe ich ein neues Leben."
"Der beste Mann in meinem Leben"
Auch Katerina B. wollte Anfang 2017 die Beziehung endgültig beenden. Darauf drohte Drazen D., es werde viel Blut fließen, wenn sie gehe. Sie zeigte ihn an und schickte Dario zu den Eltern nach Lettland. In der Firma, bei der sie arbeitete, lernte sie Anatolij kennen. "Der beste Mann in meinem Leben." Endlich habe sie eine erfüllende gegenseitige Liebe erlebt. Im März 2017 zogen sie zusammen. Sie baten die Behörden, ihre Adresse geheim zu halten, aber Drazen D. kannte den neuen Wohnort des Paares längst – er hatte den Freund vom Arbeitsplatz nach Hause verfolgt.
Es war die Zeit, als Drazen D. seinem Anwalt erklärte, er müsse sich nicht weiter um ein Umgangsrecht mit Dario bemühen. Drazen D. verfolgte einen anderen Plan.
"Ganz Tuttlingen wusste, dass der Angeklagte eine Waffe kaufen wollte", sagte eine Zeugin vor Gericht. Drazen D. fragte Bekannte im Café und in einem Wettbüro. Anfang August fuhr er mit einer Nichte nach Serbien. Er sei auf der Suche nach einer "Wumm", schrieb die Nichte ihrem Bekannten kaum verschlüsselt, am 13. August waren sie zurück.
Im August wurde der Kreis der Menschen, die etwas ahnten, immer größer. Es waren nur noch gut vier Wochen bis zu den Morden.
Katerina B. registrierte, wie jemand mit einer Taschenlampe ums Haus schlich. Das Auto war zerkratzt. Jemand hatte den Rollladen beschädigt und die Teile auf dem Fenstersims aufgereiht. Anatolij sah den Ex-Freund nahe beim Haus, im Auto.
Das Paar ging zur Polizei.
Gefährderansprache
Am 19. August traf Katerina B. ihren Ex-Freund zufällig beim Einkauf. Er umarmte den Sohn und sagte ihm, er werde ihn bald holen. Er beschimpfte seine Ex-Partnerin als Hure. Er werde ihren neuen Freund und alle, die ihm nahestehen, umbringen. Auch Dario. Sie selbst werde alles mit ansehen müssen, danach werde er ihr die Augen ausstechen. Bald. In einem Monat oder zwei. Er wisse jetzt, wo sie wohne.
Aufgelöst wandte sie sich wieder an die Polizei. Ein Auszubildender nahm die Anzeige auf. Er gab den Fall weiter, die Kollegen vor Ort sollten sich kümmern. Geplant war eine "zeitnahe Gefährderansprache". Später vor Gericht wirkte der junge Polizist betroffen. Hätte er ahnen können, welche Dramatik dieser Fall entwickeln würde? "Wenn etwas passiert, kreuzigt man den einzelnen Beamten", sagt der Psychologe Jens Hoffmann, der sich seit Jahren mit dem Thema Stalking beschäftigt. Zum professionellen Umgang mit der Gefahr gehöre aber, dass die Behörden zusammenarbeiten und sich austauschen, dass man auf das Muster schaue, nicht nur auf einzelne Verhaltensweisen. Wer die Gefahr erkenne, könne dann auch darauf reagieren. Beispielsweise das Opfer an einem geheimen Ort unterbringen.
Für Katerina B. und ihren Lebensgefährten hätte es tatsächlich eine Schutzwohnung gegeben. Aber keine Behörde, weder die Polizei noch das Jugendamt, hatte die Dringlichkeit erkannt – weil es offenbar keinen Austausch über Drazen D. gab.
In der Gefährderansprache, in diesem Fall nur ein Telefonat, ermahnte die Polizeibeamtin Drazen D., Abstand zu seiner Ex-Freundin zu halten. Er habe nichts Böses vor, versicherte er. Und erwähnte nebenbei, er vermute, dass seine Ex-Freundin in Villingendorf wohne.
"Wir können doch nicht rund um die Uhr Polizei ums Haus stellen", erklärte eine Beamtin der verängstigten Frau. Man werde die Wohnung des Paares "hin und wieder bestreifen".
Katerina B. hat Anzeigen erstattet, auch gegen das Jugendamt, dem sie zweieinhalb Wochen vor dem Mord ebenfalls einen Hilferuf geschickt hatte. Ihr Ex-Freund habe ihre Adresse herausgefunden, er bedrohe sie. "Wir sind in Lebensgefahr."
"Warum?"
"Ich hätte sofort losrennen müssen, egal wohin", sagt Katerina B. "Wenn ein Mensch so ist wie er, musst du rennen … musst du verschwinden, mindestens ein halbes Jahr. Denn die ändern sich nicht, es wird noch schlimmer."
Am 25. August schrieb die Nichte an einen Bekannten: "Ich glaube, der Onkel zieht es durch mit seiner Ex, und dann wird er für immer weg sein."
Die Abende seien am schlimmsten, sagt Katerina B. Dann kommen die Bilder zurück: Drazen D., der die Terrasse betritt und durchlädt.
Dario, der auf dem Fenstersims des Wohnzimmers steht, halb versteckt hinter einer Gardine, und auf die Terrasse schaut. Sein ungläubiger Blick. Seine zitternden Beine. Es ist ihr letztes Bild von Dario.
"Warum?", hat sie Drazen D. im Gerichtssaal gefragt. Er hat den Kopf weggedreht. Er hat geschwiegen.
Darios kleiner Bruder
Sie habe mehrmals darüber nachgedacht, einfach Schluss zu machen, doch es gibt einen Grund, der sie am Leben hält. Fünf Tage vor Anatolijs Tod erfuhr sie, dass sie schwanger ist. Darios kleiner Bruder wurde vor drei Monaten geboren. Es ist Anatolijs Kind. Und es geht ihm gut.
*Namen von der Redaktion geändert
Der Artikel über Mord aus Eifersucht ist dem aktuellen stern entnommen: