Heute vor 26 Jahren Wie ein Massengentest den Mädchenmörder Ronny Rieken überführte

Ronny Rieken sitzt am 12.11.1998 auf der Anklagebank des Landgerichts Oldenburg
Ronny Rieken wurde im November 1998 vor dem Landgericht Oldenburg zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (Archivbild)
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Am 9. April 1998 wurde in Deutschland der bis dahin weltgrößte Massengentest durchgeführt. Mehr als 16.000 Männer gaben freiwillig eine Speichelprobe ab. Einer von ihnen wurde anschließend als Mädchenmörder überführt.

"Nelly", wie Christina N. auch genannt wird, verbringt den Nachmittag des 16. März 1998 mit ihren Freunden im Schwimmbad. Mit dem Fahrrad tritt sie den knapp drei Kilometer langen Heimweg nach Strücklingen in Niedersachsen an. Es ist kurz vor 19 Uhr. Mit ihren Eltern hat die Elfjährige verabredet, dass sie um 19.30 Uhr zu Hause ist. Als sie um 20 Uhr noch immer nicht da ist, machen sich ihre Eltern Sorgen. Ihr Vater fährt kurz darauf die Strecke mit dem Auto ab und findet auf halbem Weg zum Schwimmbad das Fahrrad seiner Tochter. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus. Hunderte Rettungskräfte durchkämmen die Umgebung. Auch Fabriken und Firmen geben ihren Angestellten frei, um bei der Suche nach dem kleinen Mädchen zu helfen.

Was zu dem Zeitpunkt keiner ahnt: Ihr Mörder, Ronny Rieken, lebt nur vier Kilometer entfernt. Im Ort Elisabethfehn bewohnt der 30-jährige gelernte Maschinenbauer mit Frau und drei Kindern ein Rotklinkerhaus. Seit seiner Jugend prügelt er sich, jagt Mädchen Angst ein und knackt Autos. Von seiner Mutter, einer Alkoholikerin, wurde er regelmäßig geschlagen. Er ist einschlägig vorbestraft. Bereits 1989 hatte ihn das Landgericht Oldenburg zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren wegen Vergewaltigung seiner 19 Jahre alten Schwester verurteilt. Da war Rieken 21 Jahre alt. Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe kam er wieder frei. Ein psychiatrisches Gutachten in dem Vergewaltigungsprozess ergab keine Anhaltspunkte für eine Triebtäterschaft. Der Gutachter stellte lediglich Verhaltensauffälligkeiten und zeitweiligen Alkoholmissbrauch fest. Die Sozialprognose bei der vorzeitigen Haftentlassung war nach guter Führung in der Strafhaft und nach Fortschritten Riekens in der Berufsausbildung gut.

Tagelang suchte die Polizei nach der verschwundenen elfjährigen Christina N.
Tagelang suchte die Polizei nach der verschwundenen elfjährigen Christina N. 
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Später hält er sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Selbst wenn er gerade keine Arbeit hat, wahrt er vor seiner Frau den Schein und geht morgens aus dem Haus – um sich herumzutreiben. Und um nach neuen Opfern Ausschau zu halten.

Drei Tage lang sucht die Polizei bereits nach der verschwundenen "Nelly", als sie ihren Rucksack am Küstenkanal findet. Weitere drei Tage später, am 21. März 1998, finden Jäger schließlich ihre Leiche in einem Wald bei Lorup im Kreis Emsland – rund 20 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Nur notdürftig ist der Körper mit Zweigen bedeckt. Ihr ganzer Körper ist mit Hämatomen übersäht. Eine Obduktion ergibt, dass das Mädchen sechs Mal vergewaltigt und anschließend erwürgt wurde. Danach hatte der Täter noch 17 Mal mit einem Messer auf sie eingestochen.

Ronny Rieken hatte früher schon ein Mädchen missbraucht

Der grausame Mord erschüttert die ganze Nation. Sechsstellige Belohnungen werden ausgesetzt für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen. Zwei Jahre vor dem Mord an "Nelly" hatte ihr Mörder Ronny Rieken schon einmal ein Mädchen aus dem Nachbarort Neuscharrel überfallen und sexuell missbraucht. Die damals Neunjährige war mit dem Fahrrad unterwegs zur Schule, als er sie in den Kofferraum zerrte. Anschließend ließ er sie laufen. Riekens Frau war damals im fünften Monat schwanger.

Beamte am Fundort der Leiche von Ulrike E. im Ipweger Moor (Kreis Ammerland) bei Oldenburg
Beamte suchen am 22. Juli 1998 am Fundort der Leiche von Ulrike E. im Ipweger Moor (Kreis Ammerland) bei Oldenburg nach Kleidungsresten des Opfers und weiteren Spuren
© Ingo Wagner / Picture Alliance

Die Polizei sicherte damals DNA-Spuren, die sie jetzt mit denen von Christina N. abgleicht. Jetzt ist klar: Es handelt sich um denselben Mann. Die eingerichtete Sonderkommission "Nelly" erstellt ein Täterprofil. Demnach ist er ein Serientäter, unter 30 Jahre alt und lebt in der Gegend. Die Ermittler  bringen ihn jetzt auch mit dem Verschwinden von Ulrike E. aus Jeddeloh in Zusammenhang. Die 13-Jährige gilt seit zwei Jahren als vermisst. Am 11. Juni 1996 war sie in Habern spurlos bei einem Ausflug mit einer Ponykutsche verschwunden. Der Ort liegt rund 30 Kilometer vom Wohnort Riekens entfernt.

Um den Täter zu überführen, setzen die Beamten auf ein neues, aber rechtlich umstrittenes Verfahren: die Gen-Reihenuntersuchung. Zu dem bis dahin weltgrößten Massengentest werden mehr als 16.000 Männer zwischen 18 und 30 Jahren aus zwölf Gemeinden der Region Cloppenburg zur freiwilligen Teilnahme aufgerufen. Der DNA-Massentest startet am Gründonnerstag, den 9. April. Die Polizei nimmt von jedem der Männer einen Abstrich von der Mundschleimhaut. So werden "Epithelzellen" gewonnen, aus denen Molekulargenetiker den genetischen Fingerabdruck isolieren und ihn mit dem des Mörders vergleichen können. Zwingen kann man die Männer zu dem Test nicht. Die Polizei hat dafür keine gesetzliche Grundlage. Politik und Justiz drücken ein Auge zu.

Speichelprobe überführt Ronny Rieken als Mörder

Zusammen mit Verwandten macht sich auch Ronny Rieken auf den Weg zum Test. Der 30-Jährige will das Gesicht wahren – und hat keine Ausrede parat. Die Auswertung der Speichelproben dauert 50 Tage. Dann steht fest: Die Probe mit der Nummer 3889 stimmt mit den Spuren überein, die der Täter am Tatort hinterlassen hatte. Ronny Rieken ist damit der erste Straftäter bundesweit, der mit einem DNA-Massentest überführt werden kann. Als die Beamten am Freitag vor Pfingsten kommen, um ihn festzunehmen, mäht er gerade den Rasen. "Dieses Rasenmähen habe ich nur deshalb gemacht, weil ich nicht wollte, dass der Rasen so verkommen aussieht, wenn die ganze Presse und alles auftaucht", erzählt er später in einem Interview.

Ein Beamter der niedersächsischen Polizei zeigt am 10. April 1998 einige Speichelproben
Mehr als 16.000 Männer mussten am 9. und 10. April eine Speichelprobe abgeben
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Es dauert eine Zeit, doch schließlich gibt Rieken auch den Mord an Ulrike E. zu. Er führt die Ermittler zu einem Moorgebiet, wo er ihre Leiche verscharrt hat. Rieken hatte das Mädchen damals an den Haaren vom Kutschbock gezogen, vergewaltigt und getötet. Ihre Gebeine können nur anhand der Zahnspange identifiziert werden. 

Während der Vernehmung mit der Polizei gesteht Rieken schließlich auch die Vergewaltigung der Neunjährigen aus Neuscharrel und eines acht Jahre alten Mädchens. Außerdem gibt er die Vorbereitung mehrerer gleichartiger Verbrechen an Mädchen in den vergangenen fünf Jahren zu und gesteht nachträglich zudem die Vergewaltigung einer 15-Jährigen im Jahr 1987.

Vor dem Oldenburger Landgericht stellten sich die Eltern der ermordeten Christina N. den Fragen der Journalisten
Vor dem Oldenburger Landgericht stellten sich die Eltern der ermordeten Christina N. den Fragen der Journalisten
© Ingo Wagner / Picture Alliance

Der Prozess gegen Rieken dauert nur sechs Tage. Am 27. November 1998 wird er zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld wird festgestellt. Diesmal erstellen Gutachter eine eindeutige Diagnose: Rieken sei nicht therapierbar. Er könne die Gefühle anderer Menschen nicht nachempfinden. Er habe einen Hang zu schwer aggressiven Taten und müsse als rückfallgefährdet gelten. Rieken habe heimtückisch, vorsätzlich und bei klarem Bewusstsein gemordet, um die Vergewaltigung der beiden Kinder zu vertuschen, so der damalige Richter, der betont, ein tatsächlicher lebenslanger Freiheitsentzug wäre eine angemessene Sühne für seine Taten. Positive Ansätze bei dem Angeklagten – wie die Bereitschaft zum Geständnis und die Mitwirkung bei der Aufklärung der Verbrechen nach der Festnahme – könnten an dem Schuldspruch nichts ändern.

15 Jahre später,  im Jahr 2013, entscheidet das Landgericht Lüneburg über eine vorzeitige Haftentlassung und setzt wegen der Schwere der Schuld eine Mindesthaftdauer von 23 Jahren fest. Im Februar 2021 stellt Rieken, der inzwischen seinen Nachnamen geändert hat, einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Dieser wird vom Landgericht Lüneburg abgelehnt. Die Richter kommen zu dem Schluss, dass von ihm nach wie vor eine Gefahr ausgeht. Rieken bleibt vorerst weiter in der Justizvollzugsanstalt Celle in Haft. Bis heute hat er keinen weiteren Antrag gestellt.

Sehen Sie im Video: Jürgen Schmidt ist ehemaliger Chef der Kriminalpolizei Gifhorn und hat in der STERN CRIME Masterclass detailliert über seinen Beruf Auskunft gegeben. In den Aufzeichnungen berichtet Schmidt vom Alltag bei der Kripo, erklärt das Vorgehen der Polizei am Tatort in der Theorie und anhand von zwei Fallbeispielen.

Quellen: ARD, "Nordwest-Zeitung", DPA-Archiv, stern-Archiv

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