Dienstagmorgen im niedersächsischen Städtchen Stade. Der Prozess um den siebenfachen Sittensen-Mord im China-Restaurant "Lin Yue" geht in die zweite Runde. Wie schon am ersten Hauptverhandlungstag vor gut zwei Wochen, heißt das: Die hiesige Klinkerkleinstadtbeschaulichkeit wird empfindlich gestört. Immer wieder bilden sich vor dem Landgericht, entlang der Ritterstraße und auf dem Vorplatz der St.-Wilhadi-Kirche, Menschentrauben, aus denen sich die Mikrofone der Fernseh- und Radiostationen in den blaugrauen Frühherbsthimmel schrauben. Erstaunte Einheimische betrachten das Treiben.
Könnten sie sehen, was drinnen im Schwurgerichtsaal des Landgerichts vor sich geht, sie würden sich wohl noch mehr wundern. Es geht um eines der schwersten Gewaltverbrechen der letzten Jahre. Da sitzen sich drei Richter und zehn Rechtsanwälte gegenüber, flankiert von der Staatsanwaltschaft und den Nebenklägern. Dazwischen: fünf vietnamesische Angeklagte, die sich wegen Mordes, schweren Raubs und Anstiftung zum Raub verantworten müssen. Und dem Vorsitzende Richter Hans-Georg Kaemena und Verteidiger Wilfried Behrendt fällt nichts Besseres ein, als sich ein Wortgefecht darum zu liefern, wer von den beiden als nächstes das Wort erteilt bekommt. Immer hitziger, immer lauter. Bis am Ende keiner mehr die Worte des anderen vernimmt.
Drei gegen zehn
Der Emotionsausbruch verläuft entlang einer schon am ersten Prozesstag vorgezeichneten Linie. Auf der einen Seite: Richter Kaemena und seine beiden Beisitzer. Ihnen gegenüber, hinter aufgeklappten Laptops, die Verteidiger der fünf Angeklagten. Drei gegen zehn. Erstere wollen eine möglichst zeitnahe Rechtssprechung. "Das Verfahren bedarf einer Beschleunigung", sagt Kaemena mahnend. Letztere lassen verlauten, das sei löblich - und torpedieren den Prozess nach allen Regeln der juristischen Kunst mit Anträgen, die genau dies unterbinden.
Rechtsanwalt Christian Rosse, Verteidiger des 30-jährigen Hauptangeklagten Phong D., lässt seinen ersten Antrag von der Leine, kaum dass der zweite Verhandlungstag begonnen hat: "Der Dolmetscher meines Mandanten wird wegen Befangenheit abgelehnt." Denn dieser habe in der ersten Verhandlung nur bruchstückhaft übersetzt - abgesehen davon könne sein nordvietnamesisch sprechender Mandant die südvietnamesisch gefärbten Worte des Übersetzers ohnehin nicht verstehen. Und schon hat Verteidiger Rosse es geschafft: Sitzungsunterbrechung. Für mehr als eine Stunde. Nicht schlecht für den Anfang.
"Labyrinthischer Ermittlungsakten-Moloch
Weitere Anträge folgen. Der am schwersten wiegende, der zur erneuten mehrtägigen Unterbrechung des Prozesses führt und wohl auch den eigentlichen Grund für die Gereiztheit im Gerichtsgebäude und die Antragswut der Anwälte darstellt: Durch den richterlichen Geschwindigkeitsrausch habe der Prozess zu früh begonnen. "Ich fühle mich schlicht nicht ausreichend vorbereitet für den Prozess", klagt Verteidiger Baisch. Sein Kollege Docke wettert gegenüber Gericht und Staatsanwaltschaft: "Was wir von Ihnen bekommen haben, ist ein labyrinthischer Ermittlungsakten-Moloch!" Über 7 Gigabyte Daten hätten er und seine Kollegen durcharbeiten sollen. Er hat diese Datenmenge der Anschaulichkeit halber einmal umgerechnet, sagt er: "40.638 Aktenseiten sind das. Da braucht es dreieinhalb Monate allein fürs Lesen."
Einige der Verteidiger sagen, sie hätten die vollständigen Unterlagen erst vor fünf Tagen erhalten - offenbar ist das zusammengetragene Ermittlungsmaterial in seiner Gänze nicht nur für die Verteidiger unüberschaubar. Schon am ersten Verhandlungstag war der Prozess nach kurzer Zeit wegen unvollständiger Akteneinsicht der Verteidigung unterbrochen und auf den 11. September vertagt worden.
Es scheint, die Polizei hat in ihrer Ermittlungswut so viele Informationsquellen angezapft, dass der Gerichtsprozess nun in der Informationsflut zu versinken droht. Dass es am zweiten Verhandlungstag immerhin zur Verlesung der Anklageschrift kam, ging ebenfalls fast unter.
Potenziell nützliches Wissen
Die Sonderkommission war zeitweise mit über 100 Beamten besetzt, ging mehr als 1000 Spuren nach, untersuchte Tausende von Gegenständen. Durch die schnellen Ermittlungserfolge und neue Methoden der Beweisgewinnung - unter anderem wurde ein 3-D-Laserscanner eingesetzt, um den Tatort für eine Expertenanalyse millimetergenau zu vermessen - häuften die Ermittler in kurzer Zeit eine Unmenge potenziell nützlichen Wissens an. Das kann auch zum Problem werden. Verteidiger Baisch formuliert es so: "Wir werden zugeschüttet mit Beweismaterial."
Eigentlich war es nach der Mordnacht von Sittensen viel schneller gegangen als die Ermittler zu hoffen gewagt hatten. Die ersten beiden der fünf nun angeklagten Vietnamesen wurden bereits wenige Stunden nach der Tat festgenommen. Im Mai und im Juni fasste die Polizei die übrigen Verdächtigen. Die Beweise, sagen die Ermittler, sind erdrückend. Blut-, Faser- und DNA-Spuren sowie Teilgeständnisse während der Vernehmung schienen vor Beginn des Prozesses allein die Frage offen zu lassen, wer der Beschuldigten die tödlichen Schüsse abgegeben hatte - und ob die Morde von vornherein geplant gewesen waren.
Die derzeit drängendste Frage ist, wann der Sittensen-Prozess so richtig beginnen wird. Denn die ersten, die unter der Beweislast zusammenbrachen, waren: die Verteidiger.
Der Prozess soll am 20. September fortgesetzt werden.