Nur eine einzige Straße führt ins Ultental. Es liegt in Südtirol, und sein italienischer Name erweckt den Anschein, als höre die Welt hier auf: "Val d’Ultimo" bedeutet so viel wie das Tal, das zuletzt kommt. In Ulten sind die Häuser, etliche davon sonnengegerbte Bauernhöfe mit Schindeldächern, nicht mit einem Straßennamen versehen. Eine Nummer reicht aus, um sie zu identifizieren. Das Tal ist schmal und schattig und besteht zu einem Drittel aus Wald.
Die Frauen in Ulten heißen auch heute noch am häufigsten Maria und die Männer Josef. Tief hat die katholische Kirche sich in die Ultner Seele geschrieben. Selbst die Orte tragen die Namen von Heiligen: St. Walburg. St. Nikolaus. Und, ganz am Ende des Tales, dort, wo diese Geschichte maßgeblich spielt: St. Gertraud.

Ende 2023 liegt eine Schneedecke über dem Dorf, das auf rund 1500 Meter Höhe liegt, während es unten in Meran, in der Stadt, noch warm ist wie im Herbst. Unwegsame Gipfel türmen sich hinter St. Gertraud auf wie eine Mauer. Seit über 700 Jahren schaut ein Gotteshaus von diesem Hügel auf die rund 300 sündigen Seelen herab, die in dieser Fraktion der Gemeinde leben. Dickköpfig seien sie und eigen, sagt man im Nachbarort über die St. Gertrauder, dickköpfiger und eigener, als die Ultner ohnehin schon seien. Als ob diese Eigenschaften zunähmen, je tiefer man ins Tal vordringt.
Gleich neben der Kirche steht das Haus Nr. 120, ein dreistöckiges, leuchtend weiß verputztes Gebäude mit kleinen dunklen Sprossenfenstern. Im ehemaligen Widum, dem Pfarrhaus, inzwischen in drei Mietwohnungen parzelliert, leben ein alleinstehender Mann, ein älteres Paar, eine Familie. Vor 50 Jahren waren hier der Pfarrer und seine Häuserin daheim – bis dort in einer windigen Novembernacht im Jahr 1973 ein bis heute ungeklärtes Verbrechen geschah, in dessen Mittelpunkt ein Mann stand, der neu war im Ultental und den dennoch jeder kannte.