Liebe Ursula,
Wie geht es Dir? Ich hoffe gut, so, wie uns allen auch. Wir waren in Mazatenango, einer Stadt, wo Karneval gefeiert wird. Die Zeit vergeht im Fluge, schon sind es mehr als 2 Monate dass ich fort bin von dort und ich denke immer an Dich, bei jeder Gelegenheit denke ich, koennte ich Dir doch all dies Schoene zeigen!
Dein Friedrich
Anna Riedel (die Namen aller Personen wurden geändert) war zehn Jahre alt, als die Eltern sie ins Wohnzimmer riefen. Ihr Vater saß am Esstisch und machte ein ernstes Gesicht: „Wir müssen dir etwas erzählen“, sagte er. Dann legte er ein Foto auf die weiße Tischdecke.
Eine ältere Frau, ein älterer Mann und vier jüngere Erwachsene schauten in die Kamera. Ihre Haut war dunkler als die von Anna, die Haare schwarz. Annas Vater sagte: „Das ist ein Teil deiner Familie. Sie lebt in Guatemala.“
Die Szene am Esstisch, als sie noch ein kleines Mädchen war, hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt, sagt Anna Riedel heute. Unter Guatemala, einem kleinen Land in Mittelamerika, wie ihr Vater erklärt hatte, konnte sie sich damals zwar nichts Genaues vorstellen. Nur, dass es vermutlich ganz anders war als der kleine süddeutsche Ort, in dem sie aufwuchs. Doch sie freute sich über die neuen Menschen, die mit einem Schlag zu ihrer Familie gehörten. Eines Tages würde sie die Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen kennenlernen. Anna Riedel sagt, sie spürte Neugier.
Nur eine Sache hatte ihr Vater ihr verschwiegen. Eine Person auf dem Foto fehlte: Annas Großvater.
Erst Jahre später würde Annas Vater ihr von ihm erzählen. Von Friedrich Alexander Müller, dem Besitzer etlicher Kaffeeplantagen. Im Jahr 1951 war er auf einer seiner Fincas in Guatemala erschossen worden. Der Täter wurde nie gefasst.