Die Hansestadt Hamburg rühmt sich gerne damit, eine der reichsten Städte Europas zu sein. Schlagzeilen aber macht die Metropole zurzeit mit erschütternden Geschichten aus einer Welt, die nicht in den vornehmen Villen Blankeneses, auf Alster-Segelyachten oder hinter den Türen elitärer Kaufmannsclubs spielen.
Es sind Geschichten wie die der Frau R., die zusammen mit fünf ihrer acht Kinder in einer Wohnung hauste, die übersät war mit Essenresten, Müll und Fäkalien. Ihren Nachwuchs schickte sie zum Schlafen in den Keller. Während die Polizei die Kleinen befreite, verschwand R. kurzerhand in die nächste Kneipe.
Bundesweit für Schlagzeilen sorgten die Schicksale von Jessica, 7, Michelle, 2, Brian, 2, Bianca, 4: verhungerte, verwahrloste Kinder, die in grauen Hamburger Stadtteilen wie Jenfeld jahrelang in verdreckten, vermüllten und zugekoteten Wohnungen eingesperrt waren, und solange dahinvegetierten, bis sie ihre Kraft verließ. "Was ist los in unserer Stadt?", fragten nicht nur die Boulevardblätter. Ihre Besorgnis war ausnahmsweise echt.
So können Sie helfen
Eindeutige Hinweise, wie man als Außenstehender vernachlässigte Kinder erkennen kann, gibt es kaum, sagen Experten. Sie raten daher zu einer "Kultur des Helfens": Bieten Sie etwa an, auf die Nachbarskinder aufzupassen, versuchen Sie engeren Kontakt mit Anwohnern aufzubauen, mit Kindern und den Erwachsenen. Sollten Sie dennoch den Eindruck haben, dass Kinder aus ihrem Umfeld vernachlässigt werden, können Sie sich zum Beispiel an das Jugendamt beziehungsweise die Allgemeinen Sozialen Dienste wenden. Sie behandeln Hinweise auch anonym.
Weitere Hilfe und Informationen:
Kinderschutzbund
Allgemeiner Sozialer Dienst:
"Handbuch Kindeswohlgefährdung"
Was ist los in Hamburg? Sicher - groß ist in der Hansestadt nicht nur die Millionärsdichte, sondern auch die der Sozialhilfeempfänger: 6,9 Prozent aller Hamburger leben von der Stütze, nur in Berlin und Bremen sind es mehr. Auch die Kinderarmut liegt laut Arbeiter-Samariterbund mit knapp 30 Prozent deutschlandweit im oberen Tabellendrittel. Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol, so Experten, seien oft allzu gute Nährböden für das Phänomen Kinder-Vernachlässigung.
Katharina Abelmann-Vollmer von Deutschen Kinderschutzbund beschreibt den Werdegang eines typischen Vernachlässigungs-Szenarios: "Die Familien geraten in Schwierigkeiten, etwa durch Arbeitslosigkeit. Schon alleine diese Situation überfordert viele Betroffene. Dann folgen finanzielle Schwierigkeiten, und wenn, wie im Fall von Jessicas Vater, psychische Störungen dazukommen, werden die Probleme irgendwann vollständig verdrängt und Kinder weggesperrt." Aus den Augen, aus dem Sinn.
Fälle wie Jessica, abgemagert bis auf die Knochen und erstickt an ihrem Erbrochenen, oder Michelle, die an einem nicht behandelten Hirnödem gestorben ist, sind extrem, aber zum Glück auch extrem selten. Doch vernachlässigte Kinder, der Kinderschutzbund schätzt ihre Zahl auf bundesweit 100.000, kommen nicht nur in sozial schwachen Milieus vor. Auch der Nachwuchs aus vermeintlich geborgenen Mittelschichtfamilien ist davor nicht gefeit.
Mit T-Shirts in den Schnee
Dort allerdings nehme die Vernachlässigung andere Formen an, sagt Abelmann-Vollmer: Nicht, dass die Kinder hungrig in die Schule geschickt würden oder mit Sommerkleidung über den Winter kommen müssten, so die Kinderschützerin. Die Probleme lägen im psychologischen Bereichen, auf emotionaler Ebene.
Ein klassischer Fall: Karrierefamilien. Mutter und Vater arbeiten beide und gerne, für den Beruf nehmen sie sich immer Zeit, für die Kinder selten. Haben die karrieretüchtigen Eltern ein schlechtes Gewissen, betäuben sie es entweder durch ein Übermaß an Geschenken und Spielzeug - haben sie kein schlechtes Gewissen, passiert noch weniger. In beiden Fällen bleiben Kinder zurück, die ohne emotionale Verankerung, ohne Werte und Regeln sich selbst überlassen bleiben.
Nicht alle von ihnen enden als psychische Wracks, werden drogenabhängig oder steigen die soziale Leiter hinunter. Eltern, die durch Job und Kinder überfordert sind, es sich zudem leisten können, schieben ihre Kinder auch mal ins Internat ab oder schicken sie zum Psychologen. "Damit sie wieder funktionieren", wie Christine Köckeritz, Entwicklungspsychologin an der Fachhochschule Esslingen sagt.
"Unterprivilegierte Schichten haben weniger Möglichkeiten, die Geschehnisse zu deckeln", sagt Herbert Blüml vom deutschen Jugendinstitut in München über den unterschiedlichen Umgang von Arm und Reich mit ihren "Problemkindern". Eines aber ist beiden gemeinsam: Die Eltern sind überfordert. Und, noch schlimmer, "sie glauben, alle Familienangelegenheiten alleine lösen zu müssen", so Blüml. Dabei habe schon Hillary Clinton den treffenden Satz gesagt: "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen."
"Mobilität reißt Familien auseinander"
Von einer dörflichen Gemeinschaft, von intakten Familien, bei denen Oma und Opa nicht hunderte Kilometer weit entfernt wohnen, von engen nachbarschaftlichen Beziehungen - von all dem entfernt sich unsere Gesellschaft zusehends. "Auch die oft geforderte Mobilität reißt Familien auseinander", sagt Abelmann-Vollmer vom Kinderschutzbund. Von diesen Entwicklungen sind Arm und Reich gleichermaßen betroffen.
Damit nicht noch bei mehr Kindern die Vernachlässigungsfalle zuschnappt, fordern die Experten einhellig den Aufbau von neuen Netzwerken, Nachbarschaftshilfen und die Besinnung auf ein funktionierendes Gemeinweisen. Anlaufstellen müssten geschaffen werden, die leicht erreichbar sind, zum Beispiel in Schulen und Kindergärten. Abelmann-Vollmer: "Eltern sollten die Idee aufgeben, immer alles alleine schaffen zu wollen oder zu müssen."