Leicht verwahrlost seien die fünf Jungs gewesen, behauptet eine Einwohnerin des kleinen schleswig-holsteinischen Ortes Darry am Donnerstagmorgen gegenüber dem Radiosender NDR-Info. Noch ist offen, ob diese Behauptung stimmt, wie die fünf Knaben gelebt haben - und von wem, wie und weshalb sie getötet worden sind. Aber im Raum steht wieder die Frage, wie in den vergangenen Wochen auch im Fall der kleinen Lea-Sophie aus Schwerin, wie es sein kann, dass Kinder in der Gegenwart ihrer Eltern verwahrlosen, ohne dass ein Dritter - Verwandte, Nachbarn, der Staat - sie schützt und rettet.
Es ist ein enorm wichtiges Thema, in dem die Antworten nicht so eindeutig auf der Hand liegen, wie man auf den ersten Blick vermeinen möchte. Denn wie weit darf der Staat in das Privatleben einer Familie eingreifen? Was dürfen die Jugendämter? Wie engmaschig darf die Kontrolle durch Dritte sein - ab wann ist ein blauer Fleck einfach ein blauer Fleck, ab wann ist er ein Indiz für eine Gewalttat?
Was vor Ort und konkret gegen die Gleichgültigkeit beim Thema Verwahrlosung von Kindern getan werden kann, zeigt das Beispiel der sauerländischen Gemeinde Sundern. Hier soll Müttern aktiv Hilfestellung gegeben werden, wenn sie das Gefühl haben, die Probleme mit ihren Kindern nicht mehr alleine bewältigen zu können.
Zwischen 49.000 und 98.000 Kinder sollen laut Aussage des Statistischen Landesamtes alleine in NRW vom Thema Verwahrlosung betroffen sein. In Sundern nun ist man auf die Idee gekommen, eine Art Frühwarnsystem für junge Mütter zu installieren. So können die Mütter dort auf die ständige 24-stündige Rufbereitschaft bei elterlichen Problemen zurückgreifen und einmal wöchentlich ein Treffen unter professioneller Aufsicht besuchen.
"Frauen aus sozial schwierigem Bereich"
Es ist kurz nach zehn Uhr am Morgen. Der zweijährige Jean-Luca will unbedingt Fußball spielen. Er tapst auf den bunten "Winnie-Pooh-Ball" zu und donnert den dann mit einem recht strammen Schuss gegen die Holz-Verkleidung der Heizung. Doris Gräbe, 53, lacht bei dem Anblick kurz auf: "Der wird bestimmt mal Fußballer." Sie ist eine der beiden Diplom-Sozial-Pädagoginnen, die sich einmal wöchentlich in der Kurzen Straße in Sundern um die Belange junger Mütter kümmern. Im Raum nebenan sitzen heute sechs Mamas und reden mit Gräbes Kollegin Sonja Oenings, 34, über ihre Probleme mit dem Leben, den Kindern, den oftmals fehlenden Vätern, dem Unterhalt, oder einfach nur über Klatsch und Tratsch aus der Kleinstadt.
"Wir wollen den jungen Müttern ihre Erziehungsunsicherheit nehmen. Denn wenn Vernachlässigung festgestellt wird ist es meistens schon zu spät",sagt CDU-Bürgermeister Friedhelm Wolf, 61. "Die Frauen stammen aus einem sozial schwierigen Bereich."
Was er damit meint, hört und sieht man, wenn man die jungen Müttern nach ihrer Ausbildung oder Arbeit fragt. Zurück kommen nur irritierte Blicke, untermalt nur vom neuesten Klingelton aus einem der Handy-Lautsprecher. Rabea, 21, [alle Namen der betroffenen Frauen wurden von der Redaktion geändert] "gefällt die Gruppe besonders gut", weil "hier junge Frauen sind." Doch stimmt das Klischee von Jung, schlecht ausgebildet, mit Kindern und arbeitslos hier wirklich mit der Realität überein? Die Antwort gibt Angela: "Ich wohne mit meinem Mann zusammen, der Arbeit hat." Der Rest ist Schweigen aus der Runde. Keine der Frauen hat eine Ausbildung, teilweise fehlt sogar der Hauptschulabschluss. Sie haben sich einigermaßen in ihrem Leben mit Hartz 4 eingerichtet. Rabea sagt, dass sie die Gruppe gerne drei bis vier Mal pro Woche besuchen würde, wenn es die Möglichkeit dazu gebe. Doch ein Ausbau der Beratung ist zurzeit nicht vorgesehen.
Lernen, wie man Kinder betreut
Normalität. Das ist es, was den Frauen hier für 120 Minuten geboten wird. Normalität, die sie so nicht kennen. Und so hatte der Geschäftsführer des SkF-Familienhilfezentrums Marienfrieden in Arnsberg Bernhard Padberg, 55, bei Gründung des Projekts "Kindergruppe junger Mütter" zunächst anderes im Sinn: "Wir wollten den jungen Frauen einen guten Start in die Berufswelt vermitteln. Doch dann haben wir bemerkt, dass es zuvor um die Kinderbetreuung gehen muss, weil elementare Qualifikationen dort fehlen." Deshalb lernen die jungen Mütter in den zwei Stunden, wie man einen Brei kocht, erkennt, ob das Kind krank ist, oder den schwierigen Behörden-Umgang. Das passende Programm denken sich die beiden Diplom-Sozial-Pädagoginnen für ihre Schützlinge aus.
Dass Angebote, wenn es sie gibt, auch genutzt werden, belegt die Statistik. So vermeldete das Statistische Bundesamt im Mai 2005, dass sich die Zahl derer, die sozialpädagogische Unterstützung bei der Kinder-Betreuung nutzten in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt habe. 42.000 Familien mit 94.500 Kindern wurden demnach damals unterstützt. 1994 waren es nur 17.000 Familien gewesen.
Ansprechpartner auch außerhalb der Besuche
In Sundern ging man jedoch den neuen Weg des wöchentlichen Treffens und klärte selbst die schwierige Finanzierungs-Frage galant und einfach. Denn das Geld für das neue Projekt stammt aus Mitteln der Bürgerstiftung Sundern, der Stadt und Eigenmitteln des Trägers. Bürgermeister Wolf will das sinnvolle Projekt auch weiterhin unterstützen: "Ich sehe kein Problem, dass das Projekt weiter geführt wird." Nur 12.000 Euro für ein Jahr kostet der Mütter-Coaching-Morgen, Doris Gräbe arbeitet dort zusätzlich zu ihrem Halbtagsjob in der Schwangerenberatung, ihre Kollegin Oenings hat einen Minijob, da sie vor kurzem selbst entbunden hat.