Neulich habe ich an dieser Stelle beschrieben, warum ich mein Projekt, dieses Jahr jeden Monat in einer anderen deutschen Stadt zu leben, nach fünf Monaten abgebrochen habe: Nach Jahren des Herumvagabundierens brauchte ich endlich wieder Boden unter den Füßen, zum ersten Mal in meinem Leben war das Heimweh stärker als das Fernweh. Immer noch erreichen mich Briefe zu dem Thema, verständnisvolle, aber auch vorwurfsvolle. "Wäre es nicht möglichgewesen, vorausschauender zu handeln, gewisse Probleme/Stimmungen vorauszusehen und eben weniger spontan zu sein? Das fände ich erwachsener. Aber bitte fühlen Sie sich nicht angegriffen", schrieb etwa eine Leserin. Wir begannen eine kleine Debatte über Erwartungen und Erwachsensein, ihre Meinung war: "Ich finde, es zeichnet einen Erwachsenen aus, dass man die Weitsicht hat, begonnene Projekte auch zu Ende zu bringen oder eben gar nicht erst zu beginnen, wenn man Probleme kommen sieht."
Das Leben - eine Abfolge von Experimenten
Komisch, aber das finde ich überhaupt nicht. Ein Erwachsener ist man, wenn man nur noch Dinge tut, deren Verlauf und (selbstverständlich erfolgreichen) Ausgang man vorhersehen kann? Um Gottes willen. Keine Ehe würde je geschlossen, kein Unternehmen je gegründet werden, alle säßen mit gefalteten Händen zu Hause, aus Furcht, einen falschen Schritt zu tun. "Keine falsche Bewegung!", hieß es immer im Western – ich finde, dass keine Bewegung je falsch sein kann, selbst wenn ein Weg kurz in die Irre führen sollte. Gerade diese Abzweigungen bringen einen oft weiter als der geradeste, stolperfreieste, durchplanierteste Highway, den so viele als ein gelungenes Leben betrachten.
Ich habe immer gefunden, dass man am besten damit fährt, sein Leben als eine Abfolge von Experimenten zu betrachten. Einige klappen, andere nicht – beides ist gleich gut. Scheitern ist Teil der Versuchsanordnung, oft der erkenntnisreichste. Keine Erfahrung ist je vergebens, auch wenn man erst Jahre später wirklich kapiert, wozu etwas gut gewesen ist. An dieser Stelle zücke ich immer gern den ollen Kierkegaard: "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden."
Meike Winnemuth
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Blöderweise trainiert man sich im Lauf des Lebens tatsächlich eine zunehmende Fehlerintoleranz an, eine Problemvermeidungshaltung. Dinge müssen gefälligst verlässlich klappen, sonst lässt man lieber die Finger davon. Nichts darf mehr schiefgehen, nichts mehr riskiert werden, so der Konsens. Schöne Idee, klappt natürlich nicht, gottlob. Erfahrung – oder meinetwegen: Erwachsensein – ist was Wunderbares, aber nicht, wenn damit gemeint ist, dass man immer schon alles vorher wissen muss. Sondern als Gelassenheitsinstrument, wenn die Dinge halt nicht so laufen wie gedacht.
Verbockt und gewonnen
Im April hat in Düsseldorf zum ersten Mal in Deutschland eine sogenannte Fuck-up-Night stattgefunden, ein Abend, bei dem sich Leute gegenseitig von ihrem Scheitern erzählten. Es muss eine ebenso lustige wie befreiende Nacht gewesen sein: Das Leben geht weiter, auch wenn man mal was verbockt hat oder nicht kann oder nicht will, es geht oft sogar viel besser weiter. Wenn diese Kolumne erscheint, bin ich gerade für eine Woche auf Spiekeroog, um die Insel und die Leute wiederzusehen, die ich während meines einmonatigen Aufenthalts im Februar kennen- und schätzen gelernt habe. Darunter auch den formidablen Kunst- und Sportlehrer Edgar, der mir damals, als ich schon an meinem Plan zu zweifeln begann, sagte, was er im Kunstunterricht immer sagt: "Manchmal muss man ein Bild einfach zurückstellen und irgendwann später daran weitermalen." Das Erwachsenste, was ich je zu dem Thema gehört habe.
Die Kolumne ...
... von Meike Winnemuth finden Sie schon immer donnerstags im stern