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Einmaleins der Philosophie Antworten auf die Fragen des Lebens

Mit seinem Philosophie-Sachbuch "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?" steht Richard David Precht seit Monaten auf der Bestsellerliste. Hier beantwortet er die Fragen, die ihm auf seinen Lesungen am häufigsten gestellt werden.
Von Richard David Precht

Was ist Wahrheit?

Viele Menschen suchen nach der Wahrheit, nach einer tiefen Einsicht in das, was im Leben richtig ist und was falsch. Auch die Philosophie verdankt sich dieser Suche, der Philosoph sucht Wahrheit und Weisheit. Das Problem dabei ist: Das Gehirn des Menschen wurde nicht dazu gemacht, eine absolute Wahrheit zu erkennen. Alle Menschen besitzen ein Primatengehirn, entstanden im Überlebenskampf in der afrikanischen Savanne. Auf eine absolute Wahrheit kam es hier nicht an. Menschen können das erkennen und begreifen, was ihre Sinne ihnen vermitteln: was wir sehen, hören, schmecken, riechen, anfassen können. Und was wir auf dieser Grundlage messen, berechnen und abstrahieren. Alles zu begreifen aber ist nicht möglich. Und es gibt auch keine Abkürzung zu höheren Wahrheiten durch Meditation. Aus dem Dunstkreis unseres Fühlens und Denkens können wir nicht ausbrechen. Deshalb fragen Philosophen heute auch nicht mehr nach der Wahrheit, sondern sie vermitteln allenfalls Zugewinne an Plausibilität. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, den Menschen zu helfen, intelligenter mit sich selbst umzugehen. Und das ist nicht wenig.

Wer ist "Ich"?

Zweitausend Jahre lang schien die Sache klar. Jeder Mensch hat ein "Ich". Wie ein roter Faden bestimmt der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt das abendländische Denken. Nur wenige wagten daran zu zweifeln, wie der jüdische Philosoph Baruch Spinoza, der Schotte David Hume oder der Physiker Ernst Mach. Geht es nach ihnen, so ist es falsch, das Ich als etwas anzusehen, was von der Außenwelt getrennt existiert. Es gebe gar kein Ich im Oberstübchen, sondern das Ich sei eine Illusion. Ende des 19. Jahrhunderts unterschied der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James das Ich vom Selbst. Unser Ich ist der dunkle Bewusstseinsstrom, der die Welt erlebt. Und unser Selbst ist die Beurteilungszentrale, die diesen Bewusstseinsstrom interpretiert. Sigmund Freud griff diesen Ball auf. Aus dem Ich wurde der dunkle Trieb des Es und aus dem Selbst das Über- Ich. Und Freuds Ich war ein Spielball zwischen diesen beiden Mächten. Die Hirnforschung geht heute noch viel weiter und zerlegt unser Ich in acht bis neun verschiedene Teile. Ob wir unseren Körper als unseren eigenen begreifen oder ob wir wissen, an welchem Tag wir geboren sind, spielt sich in ganz verschiedenen Hirnregionen ab. Aber ergibt die Melodie dieser verschiedenen Instrumente am Ende nicht doch ein Konzert - mithin ein "gefühltes" Ich? Können sieben Milliarden Menschen irren, die zu sich "Ich" sagen?

Was sind Gefühle?

Unsere Gefühle sind uns wichtig. Vielleicht sind sie das Wichtigste überhaupt. Wir erleben unsere Tage als glücklich, traurig, lustig, deprimierend, anregend, langweilig, enttäuschend, befremdlich, eintönig, anregend. Hinter all dem stehen Gefühle. Sie sind der wahre Klebstoff, der uns zusammenhält. Merkwürdigerweise spielen sie in der abendländischen Philosophie nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Philosophen hatten von Gefühlen eine schlechte Meinung. Gefühle, im Sinne von Leidenschaften, sind unzuverlässig und trüben das Denken, meinte etwa Immanuel Kant. In den Bauwerken der meisten Philosophen liegen die Gefühle irgendwo im Keller. Seit dem Beginn der modernen Hirnforschung Anfang des 19. Jahrhunderts aber wissen wir: Gefühle und Denken lassen sich nicht trennen. Ohne Gefühle wüsste unser Verstand gar nicht, was er tun soll, er hätte gar nichts zu verarbeiten. Alle unsere Interessen und Werte beruhen auf Gefühlen. Und umgekehrt interpretiert unser Verstand fortwährend unser Gefühlsleben und deutet unsere Emotionen aus. Heimweh, Nostalgie, Überdruss und Weltschmerz sind keine physiologischen Zustände - es sind Vorstellungen aus unserer Verstandeswelt. Selbst der Beschluss, in einer Angelegenheit streng logisch sein zu wollen, ist eine Gefühlsentscheidung.

Habe ich einen freien Willen?

Für fast alle Philosophen war der Mensch frei. Sein Verstand und seine Vernunft erlauben es ihm, sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden. Eine große Ausnahme macht Arthur Schopenhauer. Er stellte die ketzerische Frage "Kann ich wollen, was ich will?" und bestritt, dass der Mensch einen freien Willen habe. Die Hirnforschung scheint Schopenhauer recht zu geben. Die wichtigsten Impulse unseres Handelns kommen nicht aus dem Großhirn, dem Sitz der Vernunft. Sie kommen aus unserer Gefühlszentrale im Zwischenhirn. Das "Bereitschaftspotenzial" unseres Handelns geht unserer Einsicht stets voraus. Und viele unserer Handlungen seien durch die Gene und die Verschaltungen des Hirns determiniert, sagen die Hirnforscher. Haben sie recht, so müsste unsere Strafjustiz verändert werden. Niedere Antriebe und Motive könnten nicht strafverschärfend gewertet werden. Sie wären strafmildernd, denn ich bin ja nicht Herr meines Willens. Philosophen halten dagegen, dass unser Wille durch den langjährigen Austausch mit der Vernunft durchaus beeinflussbar ist. So unfrei, wie manche Hirnforscher meinen, sei der Mensch nun doch nicht.

Ist Moral angeboren?

Der Mensch ist das einzige Tier, das zwischen Gut und Böse unterscheiden kann - die meisten Philosophen waren und sind dieser Ansicht. In der Geschichte der abendländischen Philosophie ist die Fähigkeit zur Moral fast überall eine Sache der menschlichen Vernunft. Zweifel daran hatten die angelsächsischen Philosophen David Hume und Adam Smith. Für sie war Moral in erster Linie ein Gefühl. Durch ungezählte Versuche mit Affen und Menschenaffen wissen wir heute, dass auch unsere nächsten Verwandten so etwas haben wie moralische Gefühle. Im Wesentlichen sind es drei Bausteine der Moral: die Fähigkeit zum Mitgefühl, eine Tötungshemmung und ein elementares Gespür für Fairness. Alles drei findet sich bei Affen ebenso wie bei Menschen aller Kulturen. Die Grundlage der Moral sind demnach angeborene Fähigkeiten, unser Mitgefühl zum Beispiel basiert auf den Anfang der 1990er Jahre entdeckten Spiegelneuronen. Es sind Nervenzellen im Gehirn, die es ermöglichen, uns in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen. Wir wissen heute, dass unsere moralischen Gefühle eine sehr große Rolle spielen für unsere moralischen Überlegungen. Fast immer nämlich entscheiden wir instinktiv darüber, was wir für gut oder böse halten.

Was ist Liebe?

Das größte Thema unserer Zeit ist die Liebe. Über nichts anderes gibt es so viele Bücher, Lieder oder Filme. Aber wie erklären sich Lust, Verliebtheit und Liebe? Glaubt man den Meldungen auf den Wissenschaftsseiten der Zeitungen, dann ist die Liebe eine Frage chemischer Kampfstoffe und Hormone im Dienste unseres biologischen Auftrags zur Fortpflanzung. "Sage mir, welchen Hormonpegel du hast, und ich sage dir, wie du liebst!", lautet die Verheißung. Tatsächlich aber lässt sich die romantische Liebe nicht mit Hormonen, Boten- und Bindungsstoffen erklären.

In wen wir uns verlieben, ist ebenso eine Frage von Kindheitserfahrungen wie von gesellschaftlichen Umständen. Und unsere biologische Sexualität hat mit unserem Verlieben und unseren Liebesbeziehungen nur sehr entfernt etwas zu tun. In der romantischen Liebe suchen wir nicht die Fortpflanzung, sondern Aufregung, Verständnis und einen Spiegel für unsere Identität.

Brauchen wir Eigentum?

Die Gesellschaften der westlichen Industriestaaten leben in dem größten Reichtum in der Geschichte der Menschheit. Und unser ganzes Wirtschaftssystem ist ausgerichtet auf beständiges Wachstum. Dabei sind die materiellen Grundbedürfnisse nahezu aller Menschen in Deutschland befriedigt. Nicht unsere Bedürfnisse, sondern unser Bedarf hält die Wirtschaft in Gang. Wir erwerben täglich Dinge, die wir nicht unbedingt brauchen, die uns aber glücklicher machen sollen. Wie der Philosoph und Soziologe Georg Simmel vor mehr als 100 Jahren schrieb, vergrößern wir unser "Ichgefühl", indem wir es in die Dinge hineinprojizieren, die wir besitzen. Doch der Zauber hält nur kurz: Erwerben macht glücklich, Besitzen hingegen sehr viel weniger. Wir erwerben Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen, mit Geld, das wir häufig gar nicht haben. US-amerikanische Glücksökonomen haben herausgefunden, dass ab einem Pro-Kopf-Einkommen von 20.000 Dollar das Glück nicht mehr proportional zum Einkommen ansteigt. Trotzdem werden wir das Suchtverhalten, unser Ich mithilfe materieller Dinge erweitern zu wollen, nicht los. Hilft uns die Bankenkrise beim Umdenken?

Ist Glück lernbar?

Materielle Dinge machen selten langfristig glücklich. Doch obwohl wir dies wissen, suchen wir in ihnen unser Heil. Dabei ahnen die meisten Menschen dunkel, was amerikanische Glücksforscher in zahlreichen Umfragen und Studien herausgefunden haben. Die größte Quelle unseres Glücks liegt in unseren sozialen Beziehungen: in Familie und Freunden. Schon der Philosoph Epikur hatte dies um 300 v. Chr. ganz ohne Umfragen herausgefunden: Auf unser Sozialleben kommt es an, auf die Freude an kleinen Dingen und auf die innere Souveränität, sich von miesen Gefühlen freizumachen. Wer ohne Neid und Missgunst lebt, wer sich nicht pausenlos vergleicht und nicht von falschem Ehrgeiz getrieben wird, hat beste Chancen, glücklich zu werden. Das Rezept für ein glückliches Leben ist also gar nicht so schwer. Die Frage ist nur, ob diese Einsicht hilft, klüger und glücklicher zu werden. Denn, wie gesagt: Mit dem freien Willen ist es eine komplizierte Sache.

Hat das Leben einen Sinn?

Viele Menschen stellen sich heute die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dass wir überhaupt danach fragen, ist nicht selbstverständlich. Im Mittelalter etwa gab es noch eine klare Antwort: "Lebe so, wie Gott es dir vorschreibt!" In der heutigen Welt erscheint uns dagegen nur noch wenig vorgeschrieben. Aus diesem Grund sind wir Suchende. Wir müssen uns den Sinn für unser Leben selbst geben. Doch welche Art von Antwort erhoffen wir uns? Unser Zweifel an Gott und unsere Freiheit gegenüber übergeordneten Instanzen zwingen uns dazu, ein Leben ohne objektiven Sinn zu führen. Der weltkluge Aphoristiker Ashleigh Brilliant meinte einmal: "Besser das Leben ist sinnlos, als dass es einen Sinn hat, dem ich nicht zustimmen kann." Einen objektiven Lebenssinn sollten wir also weder erwarten, noch sollten wir uns einen wünschen. Und vielleicht ist es im Grunde auch viel schöner, dass wir in der Sinnfrage eine gewisse Wahl haben, selbst wenn sie uns manchmal verzweifeln lässt. Ein Minimum an Sinn könnte in dem liegen, was Leo Tolstoi einmal gesagt hat: "Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst, sondern darin, dass du immer willst, was du tust."

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