Ganz sicher: 5447. Das ist der PIN-Code. Schließlich holen Sie nicht zum ersten Mal Geld aus dem Automaten. Also noch einmal eingetippt: 5447. Sperrt sich die Maschine schon wieder? War es nicht doch 4557? Vielleicht 7445?? Oder 7754???
Wenn Sie den Geldautomaten jetzt noch mit Ihrer Bankkarte verlassen wollen, drücken Sie lieber auf "Abbrechen", statt das Ziffernfeld ein weiteres Mal zu traktieren und den endgültigen Einzug der Karte zu riskieren. Dann haben Sie zwar immer noch nichts im Portemonnaie, aber nach kurzer Beruhigung zwei wichtige Einsichten in das Funktionieren Ihres Gedächtnisses gewonnen.
Erstens: Auch intelligente und gesunde Menschen, die in der Schule mit dem Aufsagen sämtlicher 31 Strophen von Schillers "Glocke" glänzten, kann eine vermeintlich simple Folge von vier Ziffern vor ungeahnte Probleme stellen. Höchstens sieben Bit merken wir uns ohne entsprechendes Training spontan, sagen Gedächtnisforscher. Schon eine achtstellige Telefonnummer ist für Ungeübte also eine glatte Überforderung, und seien sie auch noch so smart.
Zweite Erkenntnis: Stress schadet dem Erinnern. Durch Aufregung, ja durch Panik ausgeschüttete Hormone stören das fein abgestimmte elektrochemische Konzert unserer speichernden Hirnzellen oder bringen es für eine Weile sogar ganz zum Verstummen. Unter Druck etwas aus dem Oberstübchen abrufen zu wollen, ist darum in der Regel so erfolgreich wie der Versuch, sich unter dem Gejohle feiernder Nachbarn in den Schlaf zu fluchen.
Sich erinnern
- das klingt banal. Tatsächlich aber ist die Gedächtnisfunktion unseres Gehirns ein höchst komplexes Wechselspiel beinahe aller Areale. Und eine gewaltige "Speicherleistung". Selbst der modernste Computer schafft nicht annähernd, was die etwa 1500 Gramm Hirnmasse in unseren Schädeln vermögen: ein ganzes Leben aufzunehmen.
Was das Gedächtnis für die Menschheit und für den Einzelnen bedeutet, ist kaum zu überschätzen. Auch wenn eine mäßige Merkfähigkeit nicht unbedingt von mangelnder Intelligenz zeugt: Ohne die Kraft des Gedächtnisses gäbe es kein Lernen, keine Gesellschaft, keine Geschichte. Wer sein Erinnerungsvermögen verliert, dem kommt nicht nur die Vergangenheit abhanden, sondern auch die Fähigkeit, in der Gegenwart zu agieren - er verliert sich selbst. Ein gutes Gedächtnis hingegen hilft, von Erlebtem zu profitieren, und gilt vielen als Ausweis geistiger Leistungskraft.
Mehr denn je versuchen wir deshalb, unsere Merkfähigkeit zu steigern. Weit mehr als 100 Bücher erklären den Deutschen inzwischen das "Power Tool Gedächtnis" oder weisen den "Weg zum Superhirn". Die Volkshochschulen locken ihr Millionenpublikum zu "ganzheitlichem Gedächtnistraining" oder zum "Gedächtnistraining durch Spiele", während gekürte Meister des Memorierens "Businesskurse" für Unternehmen anbieten. Auch Spielehersteller haben die Relevanz des Themas erkannt: Die Firma Ravensburger verkauft neben dem Klassiker "Memory" gleich eine ganze Reihe von gedächtnisschulenden "Think"-Spielen. Und natürlich gibt es Dutzende von Trainingsofferten im Internet und auf CD-Rom.
Die besseren dieser Angebote fußen auf den schnell wachsenden Erkenntnissen der Hirnforschung. Vor allem aus dem Vergessen, aus Unfällen und krankhaften Veränderungen des Gehirns haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr darüber gelernt, wie Informationen in unsere Köpfe gelangen, wie sie dort gespeichert und wieder abgerufen werden können. Weltweit versuchen Arbeitsgruppen mit den modernsten Instrumenten, Einsichten in das kaum entwirrbare Zusammenspiel der Milliarden von Nervenzellen zu gewinnen. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, so viel ist jetzt schon klar: Nichts an der Gedächtnisleistung unseres Gehirns ist selbstverständlich.
Es muss nicht gleich die Alzheimersche Krankheit sein, die unsere alltägliche Gewissheit zerbröseln lässt. Polizisten wissen, dass ihnen bei einem Unfall ungefähr so viele Versionen des Hergangs präsentiert werden, wie Zeugen zugegen waren. Oma lässt keinen Zweifel daran zu, dass es in ihrer Jugend zu Weihnachten immer geschneit hat. Ausnahmslos. Und war das nicht wieder ein schöner Abend beim Italiener vor drei Tagen? "Schmeckte vorzüglich, der Barolo", sagt er. "Der Nebbiolo, Schatz", sagt sie.
Muss es bei solchen Gedächtnisleistungen nicht verwundern, dass wir halbwegs heil durchs Leben kommen? Den Traum von der ungetrübten Wahrheit, vom "So war es und nicht anders" haben Hirnforscher längst ausgeträumt. Unser Leben baut nicht auf unser Gedächtnis, sagen sie, vielmehr baut das Gedächtnis unser Leben. Die Summe der miteinander verwobenen Erinnerungen ist so etwas wie eine Ich-Maschine.
Die Folge: Wir können gar nicht anders, als für wahr zu halten, was die 100 bis 200 Milliarden dicht verwobenen Nervenzellen in unseren Köpfen Tag für Tag und in jeder Sekunde neu zu unserer Biografie machen und zu unserem Bild von der Welt. Am Bankautomaten und beim Italiener gilt das genauso wie am Ende unserer Existenz, wenn uns vielleicht noch Zeit bleibt, Bilanz zu ziehen, bevor das Licht des inneren Projektors erlischt.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse
der Gedächtnisforschung kann jeder leicht nachvollziehen: Nur was unsere Gefühle in Wallung bringt, hat auch eine Chance, auf Dauer gespeichert zu werden. Haben Sie in der Schule die wichtigsten Sternbilder von einem langweiligen Griesgram eingepaukt bekommen, werden Sie Jahre später die Konstellation des Orion nicht mehr auswendig zeichnen können. Haben Sie aber nach dem ersten Kuss gemeinsam seufzend dort hinaufgeschaut und sich als Paar geschworen, das blieben von nun an "Ihre" Sterne, werden Sie ein Leben lang nicht vergessen, wo die am nächtlichen Himmel strahlen.
In der Mitte unseres Kopfes liegen die Teile des Gehirns, die solche Bewertungen vornehmen und die Spreu vom Weizen trennen, im Limbischen System (siehe Grafik auf Seite 68). Dort erwachen unsere Gefühle, dorthin gelangt alles, was unsere Sinnesorgane wahrnehmen, bevor sich auch nur ein Fitzchen Information festsetzt. Denn Augen und Ohren, Nase, Geschmackspapillen und Tastnerven in der Haut können nicht filtern. Ohne Pause werden alle Reize nach "oben" weitergeleitet. Dort erst taxieren zwei symmetrisch angeordnete Areale, die Amygdalae oder Mandelkerne, den Wert des Erlebten. Und der bemisst sich nicht nach der Bedeutung für das Weltkulturerbe, sondern allein danach, wie nah uns etwas geht.
Diese Bewertung dient zunächst unserem Schutz. Es könnte schmerzliche, wenn nicht tödliche Folgen haben, würden wir je vergessen, wie sich eine Schlange windet, oder dass unsere Haut verbrennt, wenn sie rot glühendes Metall berührt. Angst ist das Gefühl, das die Amygdalae mit solchen bedrohlichen Wahrnehmungen verbinden und zur lebenslangen Speicherung weiterreichen. Aber auch angenehme und lustvolle Regungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Erfahrungen in den Windungen unseres Gehirns aufbewahrt werden. Und auch sie werden im Doppel aus Information und Emotion gespeichert. Methoden zur Verbesserung der Gedächtnisleistung nutzen diese Verbindung. So werden beim Visualisieren, einer seit der Antike bewährten Technik, abstrakte Informationen mit bestimmten Bildern verknüpft (siehe Seite 76). Diese wecken unsere Aufmerksamkeit und Neugier stärker als ein Text, können eher Gefühle mobilisieren - und steigern so die Wahrscheinlichkeit, dass beim Lernen etwas "hängen bleibt".
Wie das passiert,
glaubten die Menschen oft aus ihrem Alltag ableiten zu können. In der Antike wurde Wichtiges in Wachstafeln geritzt. Ähnliche "Engramme", vermutete man also, fänden sich auch in unseren Köpfen. Später gab es die Vorstellung, das Gehirn sei in "Schubladen" aufgeteilt, in denen unsere Erinnerungen nach Themen geordnet aufbewahrt würden. Ein Areal für die binomischen Formeln aus der Mathematik, ein anderes für den romantischen Sonnenuntergang am Strand.
Wer an dieses Speichermodell nicht glauben wollte, vertrat die Auffassung, alle Gedächtnisinhalte seien überall gespeichert. Dafür sprach die Beobachtung von Medizinern, dass bei schweren Kopfverletzungen normalerweise nicht nur bestimmte Erinnerungen gelöscht werden, sondern die Gedächtnisleistung insgesamt nachlässt. Hirnforschern gelang es inzwischen, ein genaueres Bild zu gewinnen. Und dabei zeigte sich, dass beide Modelle wahr und falsch zugleich und viele Fragen offen sind.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts formulierte der französische Psychologe Théodule Ribot aus den Erfahrungen mit Patienten eine einfache Regel: Ältere Erinnerungen sind fester verankert als neue. Das belegt unser Alltag. Denn die Frage, wo wir am Abend den Autoschlüssel hingelegt haben, kann am nächsten Morgen leicht zur Herausforderung werden. Die Namen unserer Eltern aber werden wir nie vergessen, solange wir gesund bleiben.
Dass Wiederholungen nützlich, sogar unverzichtbar sind, um Tanzschritte zu behalten oder französische Vokabeln, weiß auch jeder seit seiner Jugend. Vor allem in den unbewussten Teilen des Gedächtnisses spielt das eine entscheidende Rolle. Erst wenn beim Tanzen eine bestimmte Schrittfolge oder beim Autofahren das Nacheinander von "Gas weg - Kupplung treten - schalten" so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass beim Ablaufen des Programms kein Gedanke daran mehr nötig ist, sind die Leitungsbahnen im Gehirn stabil gelegt. In diesem Fall in unserem "prozeduralen Gedächtnis", einer von vier Abteilungen im Kopf, in denen wir Erfahrungen, erworbene Fähigkeiten und Wissen ablegen.
Weil sie wissen, dass Wiederholungen für das Gehirn offenbar unwiderstehlich sind, dreschen Politiker die immer gleichen Phrasen. Und darum werden Werbefilme tagtäglich gesendet, bis wir die Slogans rückwärts im Schlaf aufsagen könnten. Selbst zwischen anderen Bildern versteckte Botschaften - zu kurz, um von uns bewusst wahrgenommen zu werden - schaffen es, in unserem Hirn Spuren zu hinterlassen. Laborversuche mit Lügendetektoren haben gezeigt, dass Probanden von solchen Informationen auf Dauer berührt waren, ohne von ihnen zu wissen: Der Hautwiderstand sank bei erneuten Einblendungen auf den Monitoren der Versuchspersonen, die Finger wurden feucht. Ein untrügliches Zeichen, dass die Botschaft angekommen war. "Priming", deutsch: Bahnung oder Prägung, nennen Wissenschaftler diese grundlegendste Form des Gedächtnisses.
Doch was genau geschieht dabei
in unseren Köpfen? Wie wird eine Information ins Langzeitgedächtnis geschrieben? Hier hilft der Vergleich mit einem Computer. Unser Kurzzeitgedächtnis entspricht dabei dem Arbeitsspeicher. Schalten Sie den Strom ab, sind alle Inhalte unrettbar verloren, es sei denn, Sie haben sie zuvor auf der Festplatte oder einer Diskette gesichert. Auch Informationen im Kurzzeitgedächtnis geraten in Vergessenheit, wenn sie nicht ins Langzeitgedächtnis weitergeschoben werden. Und das muss in Sekunden geschehen.
Stellen Sie sich die Informationswand in einem Fußballstadion vor. Und nehmen wir der Einfachheit halber an, die sei noch ein bisschen altmodisch mit vielen langen Reihen von Glühbirnen bestückt. Wird dann zum Beispiel das Halbzeitergebnis bekannt gegeben, leuchten bestimmte Glühbirnen zu einem Schriftzug auf, die anderen bleiben dunkel. Fällt ein weiteres Tor, ändert sich das Muster entsprechend. Nur wenn Sie zur Spielpause die Informationswand fotografiert haben, bleibt das erste Muster erhalten. Das Leuchtmuster mit dem aktuellen Spielstand entspricht dabei dem Kurzzeitgedächtnis, das Foto der Langzeitvariante.
Tatsächlich sind beide Formen des Erinnerungsvermögens grundverschieden. Beim Kurzzeitgedächtnis werden Inhalte durch gleichzeitig aktivierte Nervenzellen des Gehirns dargestellt. Nur solange sie im gleichen Muster "feuern", wie die Forscher sagen, vergessen wir nicht. Wollen Sie sich eine eben am Handy gehörte Telefonnummer merken, haben aber gerade keinen Stift parat, können Sie die Ziffernfolge durch ständiges inneres Aufsagen behalten, bis Sie etwas zum Schreiben gefunden haben. Jedenfalls dann, wenn die Telefonnummer nicht zu lang ist.
Die Wiederholung lässt das entsprechende Neuronenmuster immer wieder neu entstehen und schiebt andere Informationen, die sich inzwischen in das Kurzzeitgedächtnis zu drängen versuchen, beiseite. Das geht aber nur über eine sehr begrenzte Zeit. Denn irgendwann werden ihre beiden filternden Amygdalae beschließen, dass eine andere Information aus dem endlosen Strom, der über die Sinnesorgane in Ihren Kopf fließt, viel wichtiger ist als die neue Telefonnummer. Vielleicht das Auto, das von links heranrast, oder auch das hübsche Wesen auf der anderen Straßenseite. Und während der Hormonpegel steigt, ist die Telefonnummer auch schon aus dem Kopf gelöscht.
Das Langzeitgedächtnis kommt dagegen ohne unsere Aufmerksamkeit aus. Denn seine Inhalte werden nicht von leicht störbaren Mustern "feuernder" Neuronen dargestellt, sondern sind fest verdrahtet. Hardware im Hirn. Ein weiterer Teil des Limbischen Systems übernimmt eine zentrale Rolle bei der Langzeitspeicherung: der Hippocampus, ein Nachbar der Amygdala, der das Ereignis von draußen in eine für die Großhirnrinde drinnen verständliche Kodierung übersetzt. Wird dann ein bestimmtes Muster von Nervenzellen immer wieder aktiviert, führen diese wiederholten Reize schließlich zum Wachstum so genannter Synapsen. Das sind knospenartige Verbindungen am Ende tentakelähnlicher Gebilde, über die Nervenzellen elektrisch oder chemisch in Kontakt stehen ("feuern") und sich zu riesigen Netzwerken vereinen können.
Fast das komplette Gehirn ist an der Bildung des Langzeitgedächtnisses beteiligt, doch gibt es regionale Spezialisierungen: Unser "Weltwissen", Fakten wie das Datum der Krönung Karls des Großen oder die Grundlagen der Arithmetik, werden vor allem in der linken Hirnhälfte gespeichert. Die persönlichen Erfahrungen unseres Lebens in der rechten. Unbewusst Behaltenes wiederum lagert vor allem im Kleinhirn und in den hinteren Arealen der darüberliegenden Großhirnrinde. Und je stärker ein Eindruck ist, je öfter er wiederholt wird, desto robuster ist in der Folge auch seine Speicherung, desto dicker werden die "Drähte". Alte, immer wieder erinnerte Gedächtnisinhalte sind also längst nicht so flüchtig wie neue Erfahrungen und frisches Wissen - die Regel von Ribot. Darum wird in der Schule gepaukt und bei den Philharmonikern geübt, geübt, geübt.
Das Gedächtnis verfestigt sich noch weiter, wenn es bewusst gar nicht gebraucht wird - im Schlaf. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, hatte das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermutet. Nachgewiesen werden konnte es aber erst in neuerer Zeit - an Ratten. Das Gehirn von Labortieren, die vor dem Einschlummern ausgiebig in ihren Käfigen hin- und hergelaufen waren, zeigte in den Schlafphasen deutlich mehr Aktivität als das trägerer Artgenossen.
Wissenschaftler vermuten,
dass die im Wachen gemachten Erfahrungen im Schlaf noch einmal zum Verwechseln ähnlich durchlebt werden: Ratten rennen dösend wieder von Wand zu Wand. Wir gehen auf der Matratze den neuesten Geschäftsbericht durch, die letzte Lektion vom Sprachkurs oder den Flirt vom Abend. So verstärken sich bestimmte Nervenverbindungen, die entsprechenden Gedächtnisinhalte werden solider. Wir lernen im Schlaf, könnte man auch sagen. Noch nicht ganz verstanden ist, ob das eher im Tiefschlaf oder in den Traumphasen, die von schnellen Augenbewegungen begleitet sind, geschieht. An der grundsätzlichen Bedeutung des Schlafes für die Bildung des Langzeitgedächtnisses und seine "Konsolidierung" aber besteht unter Experten kein Zweifel mehr.
Untersuchungen an wachen Probanden stützen die These vom Nachbau des Gedächtnisses über Nacht - und beunruhigen zugleich: Ob wir nämlich eine bestimmte Handbewegung ausführen oder sie uns nur "vor dem geistigen Auge" vorstellen, lässt die beteiligten Areale des Gehirns fast gleichartig aufflackern. Und selbst bei komplexen seelischen Erfahrungen wirkt die Kraft des Imaginären. Wer einen schweren Verlust erlitten hat, kann viel später, vielleicht beim Durchblättern des Tagebuchs von damals, noch einmal von der alten Trauer berührt werden. Sogar unter Laborbedingungen lässt sich die Melancholie wieder erzeugen. Genauso können wir auch in Träumen leiden oder Freude empfinden - fast wie im richtigen Leben.
Doch was dem Gedächtnis hilft, Inhalte zu festigen und für das spätere Erinnern parat zu halten, markiert zugleich seinen blinden Fleck: Es kann den Unterschied zwischen tatsächlichen und eingebildeten Ereignissen nicht genau erkennen. Bleiben wir an einer fixen Idee hängen, verfestigt sie sich in den Netzwerken des Gehirns auf Dauer so sehr, dass sie für uns irgendwann zur unbestreitbaren Realität wird. Das kann ganz harmlos sein, wenn es beim Plausch daheim nur darum geht, ob der Weihnachtsbaum tatsächlich schon vor zwanzig Jahren kein Lametta mehr trug. Das kann aber auch ganze Familien in Krisen und tiefes Leid stürzen, wenn Erinnertes allein nicht mehr ausreicht, einen angeblichen Fall von Kindesmissbrauch zu klären.
Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen, sagen die Hirnforscher inzwischen. Denn unser privater Kosmos im Kopf wird dauernd neu erschaffen. Auch was schon war und längst seine Neuronenbahnen gebildet und womöglich über Jahre verstärkt hat, wird beim Erinnern immer wieder verändert. Vielleicht ein wenig geschönt oder dramatisiert, hier und da ergänzt oder getrimmt - in jedem Fall gefärbt und passend gemacht für die Regungen des Augenblicks. Und geht es dann zurück in den Speicher der Großhirnrinde, trägt das alte, polierte Ereignis ein neues emotionales Gewand. Neuronale Vernetzungen werden umgebaut, einige Zweige sterben ab, ein paar andere kommen hinzu - und nichts ist, wie es einmal war.
Manchmal nur noch mit großem Rechercheaufwand, manchmal auch gar nicht, lassen sich bestimmte Gedächtnisinhalte als "false memories" entlarven, wie sie in der Fachsprache heißen. Misstrauen ist also auch dann angebracht, wenn wir uns ganz sicher sind: So war es und nicht anders. Doch selbst falsche und manipulierte Erinnerungen können noch nützlich sein.
Forscher der University of California in Irvine studierten jüngst solche Fantasiegebilde des Gedächtnisses, als ihnen eine Idee kam. Studenten, die sich als Freiwillige für die Untersuchungen gemeldet hatten, wurden nach den Esserfahrungen ihrer Kindheit befragt. Ein Katalog vom Brei über Gemüse aller Art bis zu saftigen Burgern wurde ihnen zur Bewertung vorgelegt: Was hatten sie genossen? Was verabscheut? Nachdem alles dem Gedächtnis entsprechend beantwortet war, bekamen die Studenten ihr Nahrungsprofil nach einer Woche zurück. Allerdings hatten es die Forscher hier und da ein bisschen retuschiert: Pommes etwa hatten die Studenten als Kinder angeblich krank gemacht, knackige Salate dagegen glücklich. Die meisten anderen Positionen blieben von den Versuchsleitern unangetastet.
Der Trick funktionierte, und fast die Hälfte der Studenten fiel drauf rein. Sie glaubten sich plötzlich an früheres Bauchgrimmen zu erinnern und ließen Fetttriefendes liegen, bei vitaminreicher Kost hingegen griffen sie zu. Denn hatte die ihnen nicht schon als Kindern Glücksgefühle bereitet?
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Hans-Joachim Markowitsch, Abteilung für Psychologie der Universität Bielefeld