Protokoll "Ich lebe in zwei Welten"

Junge, 10 Jahre alt, die Mutter leidet an einer Psychose:

"Ist das normal, wenn am Tag die Rollläden heruntergelassen werden, Türen und Fenster verschlossen bleiben müssen, wenn es klingelt, die Tür nicht geöffnet werden darf? Und ist es normal, wenn durch die Wände Stimmen dringen, die Nachbarn über uns reden, die Flugzeuge tief übers Haus fliegen, um zu erkunden, was wir machen? Und ist es normal, wenn ich das alles nicht merke, ich die Stimmen nicht höre und ich mich nicht belauscht und beobachtet fühle? Was ist normal? Heute war es wieder besonders schlimm. Mutter zittert am ganzen Körper vor Angst. Sie sagt, dass sie sich bedroht fühle. Menschen ihr nach dem Leben trachten. Ich bei ihr bleiben müsse, um sie zu beschützen.

Also sitze ich wieder

im dunklen Zimmer, mache meine Hausaufgaben und stelle mir vor, dass meine Klassenkameraden sich draußen treffen, sich vielleicht darüber wundern oder gar lachen, dass ich nicht dabei bin. Meine Ausreden sind schon fast lächerlich. Dass ich zum Beispiel nach der Schule müde bin, dass ich mich erst ausruhen muss. Oder dass ich zu Hause helfen muss, weil meine Mutter mal wieder Kopfschmerzen hat. Ja, was hat sie eigentlich? Es ist doch nicht normal, was sie so alles von mir und meinem Vater verlangt. Ich meine das mit dem verdunkelten Zimmer und den anderen Sachen. Vater sagt dazu nichts. Ich weiß nicht, ob er aufgehört hat, sich zu wehren, oder ob er plant, uns zu verlassen. Er sagt mir, dass ich Geduld haben soll. Das gehe vorbei. Mutter sei besonders ängstlich und empfindlich. Sie wolle sich so schützen. Vater hat vielleicht Recht. Er redet oft mit Mutter, dann beruhigt sie sich wieder. Manchmal geht es mir so wie Vater. Ich halte aus. Immerhin darf ich ja noch zur Schule gehen, auch wenn ich nach dem Unterricht sofort nach Hause kommen muss. Auch der Fußballverein ist erlaubt. Ich lebe in zwei Welten. In der verdunkelten zu Hause und in der bunten, lebendigen draußen. Zu Hause bin ich wütend und traurig, wenn ich draußen bin, habe ich Schuldgefühle, weil ich meine Mutter mit ihren Ängsten allein gelassen habe. Ich bin zweigeteilt."

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