Soziales "Es gibt wieder ein großes Bedürfnis nach menschlicher Nähe"

Nach Einschätzung des Gießener Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter wendet sich die deutsche Jugend wieder verstärkt Werten wie Gemeinschaft und Solidarität zu.

Nach Einschätzung des Gießener Psychoanalytikers und Sozialforschers Horst-Eberhard Richter wendet sich die deutsche Jugend verstärkt wieder Werten wie Gemeinschaft und Solidarität zu. „Es gibt wieder ein großes Bedürfnis nach menschlicher Nähe“, so Richter. Besonders unter Schülern und Studenten sei eine steigende Bereitschaft zu beobachten, sich für Schwächere einzusetzen.

"Globalisierte Solidarität"

Richter verwies auf das Mitwirken tausender junger Leute bei globalisierungskritischen Organisationen wie attac, auf die Proteste von Studenten und Schülern gegen die Misere im Bildungswesen oder gegen Sozialabbau. "Bei attac treffe ich junge Leute, die den globalisierten Turbokapitalismus in die Schranken weisen wollen", sagte der Psychoanalytiker: "Hier wird das Leitbild einer globalisierten Solidarität deutlich."

Neues Lebensgefühl wie in den 70ern

Der 80-Jährige erinnerte daran, dass in den frühen 70er Jahren bereits einmal eine Massenbewegung junger Leute entstanden war, die sich Gerechtigkeit und Solidarität auf die Fahnen geschrieben hatte: "Ab etwa 1970 entstand in unserem Land ein neues Lebensgefühl", sagte der Sozialforscher: "Es gab einen fast unwiderstehlichen Drang, sich um Schwächere zu kümmern - Obdachlose, Strafgefangene, sozial gefährdete Jugendliche in Heimen."

Großes Bedürfnis nach Nähe

Allerdings hätten sich die damaligen Hoffnungen auf eine mitfühlende und helfende Gesellschaft nicht erfüllt. Wirtschaftlicher Druck habe in den 80er und 90er Jahren zu einer zunehmenden Vereinzelung der Menschen geführt. Nun aber habe der Druck ein solches Ausmaß angenommen, dass die menschliche Reaktion beginne, ins Gegenteil umzuschlagen. "Die Leute merken, dass sie sich auf nichts mehr längere Zeit verlassen können", erklärte Richter: "Dann taucht ein großes Bedürfnis auf, in den menschlichen Beziehungen etwas dagegen zu setzen." Die Menschen wollten sich "nicht total fragmentieren und auseinander reißen lassen", erklärte der Psychoanalytiker. Klar sei, dass der Druck auf die Gesellschaft angesichts der Krise der Sozialsysteme inzwischen ein enormes Maß erreicht habe: "Wir spüren alle, dass es so nicht weiter geht."

Kritik an Schröder

Nach Richters Ansicht versagen die deutschen Politiker in dieser Situation vor ihrer Führungsaufgabe. "Es fehlen in der politischen Klasse Menschen, denen man anmerkt, dass es ihnen schwer fällt, im sozialen Bereich zu kürzen." Dies gelte auch für Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder: "Der Kanzler muss sich des verbreiteten Eindrucks erwehren, dass ihn Zumutungen an die Machtelite mehr Mühe kosten als die Einforderung von Verzicht seitens der Schwächeren." Ähnliches gelte für CDU-Chefin Angela Merkel. Fatalerweise glaubten die Politiker in ihren Reden inzwischen, "ohne Wärme und ohne Ermutigung auskommen zu können", kritisierte der Psychoanalytiker. Es fehlten heute Führungspersönlichkeiten, die spüren ließen, dass sie auch selbst gemeint seien, wenn es heiße: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen."

Hoffnung für die Zukunft

Was ihn für die Zukunft dennoch zuversichtlich mache, seien nicht allein Begegnungen mit jungen Leuten, sondern auch aktuelle Entwicklungen in deutschen Unternehmen, sagte Richter. So zeige das Beispiel der Opel AG, wo durch ein neues Arbeitszeit- und Lohnmodell 1.200 Arbeitsplätze gerettet wurden, dass man in den Betrieben wieder enger zusammen rücke: "Bei Opel haben sich Arbeiter und Angestellte entschlossen zusammenzuhalten und gemeinsam Opfer zu bringen", erklärte der Sozialforscher: "Das ist ein Aufbruch."

DPA
Guido Rijkhoek

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