Wie beruhigend es war vor dem 11. September, unter dem Olivenbaum in der Cafeteria zu sitzen, den Blick driften zu lassen. Am Horizont flog eine Boeing vorüber. Flog einfach nur geradeaus. Mehr ein Gleiten, auf diese Distanz.
Peter Zelkovic blickt durch die große Glasfront in die Ferne: »Wenn da ein Flugzeug plötzlich den Blinker setzen würde.« Und reinkrachte in die Idylle, im 35. Stock der Frankfurter Commerzbank-Zentrale. In den mediterranen Garten, wo der Banker seinen Kaffee trinkt. Vor Augen der Turm der Dresdner Bank - und die Einflugschneise des Frankfurter Airports. »So was will ich mir gar nicht ausmalen«, sagt Zelkovic, 31, Kreditabteilung, schwarze Hose, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Und dann malt er doch aus. Früher, also vor dem 11. September, beneideten ihn Kollegen um seinen Schreibtisch nahe den Wolken in Europas größtem Bürogebäude, samt Antenne 300 Meter hoch. »Jetzt sind sie froh, dass sie irgendwo im dritten Stock einer Filiale sitzen«, sagt er.
Dabei ist die Aussicht wirklich traumhaft. Auch draußen im Gang, am Fenster zwischen den Aufzügen, wo Anita Nattermann-Tarra gerade eine Zigarette raucht. Frankfurt aus der Vogelperspektive: Die sich spiegelnde Sonne zieht einen Lichtteppich über den Main, hindurch gleiten Schiffe. Doch die 49-Jährige hat anderes im Blick. »Da fliegt wieder eines«, sagt sie, hebt den Arm im schwarzen Kostüm, deutet Richtung Henninger Turm. Ein Flugzeug. Auf normalem Kurs. Kein Blinker gesetzt. Kollegen beschwichtigen, Terroristen würden nicht nochmals nach demselben Muster vorgehen.
Frau Nattermann-Tarra ist da nicht sicher. Als sie vor einigen Tagen hier stand, sah sie einen gelben Hubschrauber. Er flog parallel zum Main, drehte plötzlich ab. Richtung Commerzbank-Zentrale. »Ich habe die Zigarette fallen lassen.« Es war nur die ADAC-Verkehrsüberwachung.
Weil Miriam Kettler*, 68, ehren amtliche Mitarbeiterin bei der evangelischen Telefonseelsorge in München, beim Reden gerne gestikuliert, hat sie die Kopfhörer aufgesetzt. Viele Kolleginnen halten lieber den Hörer in der Hand, weil dann die fremden Stimmen »nicht so eindringen«. Aber da hat die lebhafte Frau mit der modisch-grauen Kurzhaarfrisur keine Berührungsängste. So bis zu 50 Anrufe nimmt die ehemalige Lektorin und Übersetzerin in ihrer vier Stunden langen Nachtschicht an. Das hat sich nicht geändert, weil »wir eh an der Grenze der Kapazität sind«. Aber »das Klima ist anders geworden«. Krankheiten, Einsamkeit und missratene Kinder sind nicht mehr so das Thema. Die Weltpolitik spielt plötzlich eine Rolle und die Frage, wie das weitergehen soll.
»Krieg«, dieses Wort fällt nun oft in den Gesprächen. Alte Menschen rufen an, die »das schon einmal erlebt haben«, sich an schreckliche Einzelheiten erinnern, die fast 60 Jahre zurück liegen und darüber sprechen möchten. Die Jungen können da nicht mitreden. Aber auch ihnen haben sich die Bilder aus New York in die Seele gebrannt und Ängste ausgelöst, mit denen sie alleine nicht fertig werden. Da ist, sagt Miriam Kettler, »eine ganz große Bedrohung präsent«.
»Nondirektive« Dialoge
Miriam Kettler und ihre 130 Kolleginnen bei der Telefonseelsorge sind ein Jahr lang geschult worden, bevor sie den ersten Anruf entgegennahmen. Sie übten sich in »Selbstwahrnehmung«, »ressourcenorientierter Sprachführung«, bei der die positiven Elemente des Gesprächspartners herausgearbeitet werden, und »nondirektiven« Dialogen, bei denen sich der Telefonseelsorger »nicht so einbringt«. Sie kennen das Leben, und sie wissen, was zu tun ist, wenn eine 14-Jährige anruft, von einer angeblichen Schwangerschaft spricht, von Eltern, die sie nicht verstehen, und im Hintergrund hört man Freundinnen kichern.

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Und nun sind Menschen am Telefon, die befürchten, dass ihre nächsten Angehörigen in Ground Zero in Manhattan unter den Trümmern liegen, die es, so sagen sie, gerade erfahren haben, die traumatisiert sind, keinen Ausweg mehr sehen und keine
Hoffnung mehr haben. Ressourcenorientierte Sprachführung oder nondirektive Dialoge helfen da wenig. »Man ist ja auch selbst betroffen«, muss »die eigene Sprachlosigkeit irgendwie in Worte fassen«, sagt Miriam Kettler. Auch sie konnte in ihrer ersten Nachtschicht nach der Katastrophe nicht einfach den Hörer auflegen und nach Hause gehen. »Ich war zu aufgewühlt, habe erst lange Protokoll geschrieben und später eine barocke Trauermusik aufgelegt, um zu mir zu finden.«
Die Straße. Wo sollten sie sonst hin? Es gibt nur die Straße. Man könnte zu Hause bleiben, aber sie ertragen die Kriegsbilder im Fernsehen nicht mehr. Sie könnten Hausaufgaben machen, aber wie soll man sich auf Zinsrechnung konzentrieren, wenn alle von Biowaffen reden? Also gehen sie auf die Straße, mal zum Alexanderplatz, mal auf den Ku?damm, dort, wo gerade die Massen sind, die Demos. Es sind die ersten Demos in ihrem Leben, und sie sind bei allen dabei: gegen den Terror und gegen die Gegenschläge, in Trauer um die USA und aus Angst vor den USA. Vielleicht macht das keinen Sinn, aber es wärmt die Seele.
»Power der Straße«
Wenn Rike, 13, Linda, 14, und Karolin, 14, drei Schülerinnen aus Berlin-Pankow, von der »Power der Straße« schwärmen und von diesem »Zusammengehörigkeitsfeeling«, mag das wie ein Songtitel von Joan Baez klingen oder wie eine Predigt von Petra Kelly. Wörter aus Zeiten, in denen Engagement noch nicht als Schimpfwort galt und die Kerze in der Hand noch nicht als Betroffenheitskitsch. Petra Kelly kennen die Mädchen nicht, Joan Baez auch nicht, und selbst von der Friedensbewegung haben sie noch nichts gehört.
Wenn aber die Demonstranten »Blowing in the Wind« anstimmen oder »Give Peace a Chance«, dann singen die drei mit. Sie zünden auch Kerzen an, binden sich Palästinensertücher um den Hals und stecken sich große Buttons auf die Brust, mit dem
Peace-Emblem und dem Slogan: »Solidarität statt Krieg«. Das Ganze hat für sie nichts mit Antiamerikanismus zu tun und schon gar nicht mit Nostalgie. Sie haben einfach Angst - und wissen nicht, wohin damit. Dürfen sie das sagen - »wir haben Angst«?
Angst ist ein schlechter Ratgeber, mahnen die Politiker. Rike, Karolin und Linda hören diese Sätze nun schon seit Wochen. Aber dieselben Politiker sagen ihnen, dass man auf alles gefasst sein muss, auch auf neue Terroranschläge. Milzbranderreger. Flugzeugabstürze auf Atomkraftwerke. Woran sollen sie nun glauben? »Wir fühlen uns hilflos«, geben sie zu.
Es ist nämlich so: Eine Bombe schlug in ihr Leben ein und hat ihre Zukunft vernebelt, und da finden sie so schnell nicht raus. Vor sechs Wochen haben die drei noch über Mode gequatscht und über Jungs gelästert. Heute fabrizieren sie lieber handgemalte Plakate, verteilen Friedensflyer und rufen ihre Mitschüler zum Protest auf. Sie schwänzen sogar den Unterricht und setzen damit ihre Klassenfahrt aufs Spiel, nur um auf Demos gehen zu können. Linda sagt: »Man hat das Gefühl, plötzlich ist man erwachsen.«
Deutschlands bekanntester Psychoanalytiker
Ein bescheidenes Einfamilienhaus am Rand des Universitätsviertel von Gießen. An der Haustür der Aufkleber »Ärzte gegen den Atomkrieg«. Hier wohnt Horst-Eberhard Richter, 78, Deutschlands bekanntester Psychoanalytiker, ein Mann mit weißen Haaren und sanfter Stimme. Bereits am Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center gab er um 6.40 Uhr ein Interview im Morgenmagazin der ARD, seitdem kommt er nicht mehr zur Ruhe. Was wollen die Leute von einem Psychoanalytiker wissen? »Es geht immer um das Gleiche«, sagt Richter: »Was bedeutet die Zerstörung der Symbole unserer Macht?«
Richter trägt einen blauen Wollpullover, trinkt Tee und sitzt im Wohnzimmer zwischen Tonfiguren aus Mexiko, die mehr als tausend Jahre alt sind. Der Schriftsteller Stefan Heym ruft an. Die beiden ärgern sich, weil sie als Hauptredner der Berliner Friedenskundgebung am vergangenen Sonntag angekündigt wurden, ohne gefragt worden zu sein.
1979 veröffentlichte Horst-Eberhard Richter sein Hauptwerk »Der Gotteskomplex«. Darin beschreibt er, wie Europa seit dem Mittelalter der Glaube an Gott abhanden gekommen ist. »Seit dieser Zeit greift ein Ersatzglaube um sich. Es ist die Vorstellung, durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt eine absolute Sicherheit erringen zu können.« Ein Irrglaube, und Richter vergleicht die daraus resultierende Verunsicherung mit dem Verhalten von besonders empfindsamen kleinen Kindern, die merken, dass der Schutz der Eltern nicht umfassend ist. Sie schlafen schlecht, wollen, dass nachts das Licht brennt und die Tür zum Kinderzimmer offen bleibt, um alle Gefahren kontrollieren zu können. »Auch wir Erwachsenen wollen unsere Schwäche und Zerbrechlichkeit leugnen.« Mit immer schärferen Sicherheitsbestimmungen hoffe man, eine endgültig verlorene Grundsicherheit wiederherzustellen.
»Parallelen zur bleiernen Zeit«
Die Bomben auf Afghanistan erfüllen Richter mit Traurigkeit. Fast noch mehr zu schaffen macht dem Psychoanalytiker aber das geistige Klima in Deutschland. Die Kampagne gegen den »Tagesthemen«-Moderator Uli Wickert mache deutlich, dass Kritik an der US-Politik gegenwärtig nicht toleriert werde - außer man zitiere US-amerikanische oder indische Schriftsteller. Die ARD habe ihm genau in dem Moment den Ton abgedreht, als er sagte, dass durch die Sanktionen gegen den Irak 500000 Kinder gestorben seien. Ja, es gebe Parallelen zur oft bemühten bleiernen Zeit während des RAF-Terrorismus: Sobald man nur ernsthaft nach den Motiven der sich gedemütigt fühlenden Araber frage, setze man sich dem Vorwurf des »Sympathisantentums« aus.
Es gibt Worte, die man in diesen Wochen nicht sagen sollte. Das hat Pfarrer Schaar schnell zu spüren bekommen. Als alle von der »uneingeschränkten Solidarität mit Amerika« sprachen, verwies er auf die »verheerenden Folgen des US-Kapitalismus«. Als alle vom Entsetzen über die 5000 Toten von New York sprachen, fragte er, warum sich keiner über Hunderttausende Opfer in der Dritten Welt aufregt. Und als diese Worte draußen waren, fanden sie ihren Weg aus Perleberg in Brandenburg nach
Berlin, auf den Tisch des Generalsuperintendenten und in die Fernsehstudios der Republik. Pfarrer Stephan Schaar aus Perleberg - ein »Freund der Terroristen«? Plötzlich wird der sechsfache Vater mit dem silbernen Haar zur Stimme für das antiamerikanische Ostdeutschland. »Dabei komme ich aus dem Westen«, sagt er.
Worte wie Detonationen
Vor Monaten hätte Schaar die Worte vielleicht noch äußern dürfen, die Kritik an der »israelischen Mordpolitik im Windschatten der neuen Bush-Administration« und am »allgegenwärtigen Götzen Mammon in den USA«. Aber nun geht nichts mehr. Nun ist alles anders. Nun sind solche Worte wie Detonationen. Nun droht die Evangelische Kirche ihm mit Disziplinarmaßnahmen, und Schaar sagt: »Mein Ton war etwas zornig, aber bei der Kritik bleibe ich. Wenn die Politiker jetzt sagen, wir sind alle Amerikaner, dann sage ich: Ich bestimmt nicht.«
Vieles ist anders in diesen Wochen, auch in der Kirche, und manchmal fragt sich Pfarrer Schaar, was hier eigentlich passiert: Als die Amerikaner vergangene Woche Afghanistan bombardierten, wollte er ein Friedensgebet organisieren, wie immer in solchen Fällen, aber kein Pfarrer im Umkreis zog mit. Jetzt gegen den Krieg? Ein Zeichen gegen Amerika? Das könnte missverstanden werden. Der Pfarrer einer Gemeinde in der Nähe rief gar zur Vergeltung gegen die Islamisten auf (Die Opfer müssten Mann gegen Mann aufgerechnet werden) - und erste Perleberger Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr mit Schaar auf Konfirmandenausflüge, weil sie Angst vor Terroranschlägen haben. »Es ist eine eigenartige Zeit«, sagt er. »Auch die Kirche ist völlig verunsichert.«
Gospels sind jetzt wichtig, sagt Rudi. Gospels sind gut fürs Herz und für die Seele. »Die Gäste vergessen dann alles. Die brauchen Wärme, Essen und Musik.« All das haben sie bei Rudi Alwi im »Sepp?l«, wenn der Pianist hinten in der Nische der Kneipe auf dem hundertjährigen Klavier klimpert, den Bollerofen und sein Publikum im Rücken. Nach »When the Saints« und
»Glory Halleluja«
»Glory Halleluja« spielt er Volkslieder und die Beatles und immer wieder den Ohrwurm der Stadt, »Alt Heidelberg, du Feine«.
Rudi schenkt Vergessen, wenn auch nur für zwei, drei Stunden. Dann klappt er den Klavierdeckel zu, weil in Deutschlands ältester Studentenkneipe zurzeit nicht so viel läuft wie sonst. Nur noch wenige Amerikaner besuchen ihre alte Liebe in der Altstadt von Heidelberg, US-Reisegruppen bleiben ganz aus, dafür kommen nach wie vor Japaner, Koreaner, Schweden und viele Deutsche. Rudi, der in Holland geboren wurde und seine Jugend in Indonesien verbrachte, kennt ihre Befindlichkeiten wie ein Friseur die Haarwirbel seiner Kunden. Seit neun Jahren studiert er sie Abend für Abend, mal im »Sepp?l«, mal nebenan am Klavier des »Roten Ochsen« und sonntags beim Brunch im »Crowne Plaza«. Momentan suchen sie Ablenkung.
Um Himmels willen keine Grabesstimmung, aber auch kein grölendes Remmidemmi wie in den Spitzenzeiten des Lokals, wenn Corps-Studenten von Saxo-Borussia, Vandalo-Guestphalia oder Rhenania zum »Bierduell« an groben Holztischen antreten oder weinselige Touristen aus Oklahoma und Maryland Tische, Stühle, Wände und selbst die Decke mit Taschenmesser und Schraubenzieher traktieren und ihre Namen einritzen. Auf den Tischen flackern Teelichter, die Gespräche sind gedämpft. Vor ein paar Tagen bekam Rudi ein gepolstertes Päckchen, aus Japan. »Ich kriege nie Post aus Japan.« Ganz vorsichtig öffnete er es, aus Angst vor »diesem Pulver«, Milzbrandbakterien. Man weiß ja nie. Doch drin lag nur eine CD, ein Geschenk von ehemaligen Gästen. »Man darf sich von der Angst nicht beherrschen lassen«, sagt »Sepp?l«-Wirtin Susanne Müssig.
Wie sehr sich sein Leben seit dem 11. September verändert hat, bemerkte der Hamburger Bereitschaftspolizist Dirk Wennmann an einem Pferd, einer Tänzerin und zwei Mäusen. Vier bunte Zettel lagen auf seinem Kopfkissen, als er an einem Montagabend vom Dienst nach Hause kam. Zeichnungen seiner drei Töchter, Lara, 10, Mascha, 7, und Nadja, 7. Auf einem Blatt war der Satz gemalt: »Papa, ich habe dich lieb.« Die Mädchen schliefen schon.
Die Botschaft aus roten Filzstiftstrichen brachte den 40-jährigen Polizeihauptmeister zum Nachdenken. Er hatte seine Kinder, seit die Polizei in Hamburg vor vier Wochen eine »erhöhte Alarmbereitschaft« ausrief, nur noch selten gesehen. Die freien Wochenenden waren gestrichen. Der Gruppenführer der Landesbereitschaftspolizei machte Überstunden, jeden Tag. Er ging mit Lara nicht mehr schwimmen, er fuhr nicht mehr zu den Reitturnieren der Zwillinge Mascha und Nadja, und manchmal ertappte er sich dabei, dass er nach zehn Stunden Wachdienst vor dem amerikanischen Konsulat und mit leichten Kopfschmerzen ungestört in der Küche sitzen wollte. In diesem Moment verspürte er Angst. Nicht vor möglichen Anschlägen in Deutschland, wie es in den Zeitungen stand. Nicht vor einer Eskalation des Krieges, über die in der Dienststelle geredet wurde. Angst davor, »dass ich keine Zeit mehr habe für meine Familie«. Angst davor, dass die Arbeit für die innere Sicherheit ihn auffressen könnte.
»Erhöhte Alarmbereitschaft«
Dirk Wennmann sitzt in der hellen Küche des Einfamilienhauses, das hinter Büschen versteckt in einem kleinen Vorort im Nordwesten Hamburgs steht. Die braunen Augen blicken müde aus dem Fenster in den Garten, wo Lara, Nadja und Mascha auf einem Holzpferd herumalbern. Wennmann sagt: »Ich weiß, dass ich mit meinen Kindern viel reden muss. Es ist der erste Krieg, den sie bewusst wahrnehmen.« Und er weiß, dass er dafür nicht immer die Zeit haben wird: Die »erhöhte Alarmbereitschaft« wird bis Weihnachten dauern, sagt Wennmann. »Oder vielleicht noch Jahre.«
Seitdem Bomber und Bomben auf Afghanistan fliegen, arbeiten die Polizisten auf den Wachen in Zwölf-Stunden-Schichten. Die Zahl der Sicherheitskräfte vor ausländischen Konsulaten, Firmen und der jüdischen Synagoge wurde nochmals erhöht, eine eigene Alarmabteilung zusammengestellt. Dirk Wennmann darf sich nicht weit von zu Hause oder seinem Büro entfernen. »Ständige Bereitschaft« heißt die Anweisung der Polizeiführung: Im Notfall muss er innerhalb von 90 Minuten in seiner Dienststelle sein. Ausflüge sind tabu, Kinobesuche genauso, das Handy darf er nicht abschalten. Und der olivgrüne
Einsatzanzug des Polizisten fängt schon an zu müffeln: »Den kann ich ja nicht mal waschen. Was ist, wenn der Notruf kommt und die Uniform hängt auf der Leine?«
Hier zählt kein Dienstgrad, keine Freundschaft. Und angesichts des G36-Sturmgewehrs, das einem vor die Nase gehalten wird, kommen Diskussionen erst gar nicht auf. Wer auf die Nato-Airbase in Geilenkirchen will, wird gefilzt. Ohne Ausnahme. Auch Soldaten, die seit Jahren hier stationiert sind.
»Helft, dass der Krieg aufhört«
Seit den ersten Angriffswellen der Amerikaner auf Stellungen der Taliban gilt Sicherheitsstufe 2. Gleich vier schwer bewaffnete Militärpolizisten in Schutzwesten durchsuchen die Autos am Haupttor zum Stützpunkt an der deutsch-niederländischen Grenze. Mit Spiegel kontrollieren sie selbst verborgenste Winkel. Schäferhündin Sonja schnüffelt nach Sprengstoff. Wer durchgewinkt wird, fährt zickzack durch eine Schikane mit betongefüllten, blauen Plastikfässern. An einem Lichtmast lehnt eine gelbe Stoffente mit US-Flagge. »Helft, dass der Krieg aufhört«, steht in krakeliger Kinder-Filzstift-Schrift auf dem Mast.
»Angst hat hier keiner, es ist eher konzentrierte Anspannung wie vor jedem Einsatz zu spüren«, ruft Oberstleutnant Wolfgang Arendt, 54. Er spricht laut, schreit fast, weil 200 Meter entfernt gerade eines der fünf Awacs-Flugzeuge abhebt, die für Beobachtungsflüge über den USA vorgesehen sind. Eine Boeing 707 in tristem Mattgrau mit fensterlosem Rumpf, umgebaut zur hoch technisierten Aufklärungsmaschine. Mit ohrenbetäubendem Lärm verlieren die 160 Tonnen Stahl, Computer, Radarsysteme und Kerosin den Boden unter den Rädern.
17 dieser Aufklärungsflugzeuge sind hier stationiert. Arendt fliegt eines von ihnen. Demnächst werden wohl auch er und seine Besatzung im US-Luftraum patrouillieren. Den genauen Zeitpunkt für den Abflug erfährt er erst kurz vor dem Einsatz. »Auf jeden Fall so rechtzeitig, dass mir noch Zeit zum Packen bleibt.«
Die Besatzungen sind multinational, Herzstück ist die Computeranlage. Hier erstellen Experten wie W. Luftbilder, deren Daten an andere Flugzeuge oder die Kommandozentrale weitergeleitet werden. W. war schon beim Golfkrieg, über dem Kosovo und Bosnien dabei. »Als die Vögel ins World Trade Center krachten, wusste ich, dass wieder was auf mich zukommt«, sagt der Stabsfeldwebel. Aus Sorge um die Sicherheit seiner Frau und der zwei Kinder will er seinen Namen nicht nennen. Damit er »draußen« nicht von Fremden als Soldat identifiziert wird, hat er kürzlich das US-Kennzeichen seines Autos gegen ein deutsches Nummernschild getauscht: »Der Feind ist unsichtbar.« Und seit dem 11. September sei vieles denkbar.
»Aber dafür sind wir Soldaten, dafür sind wir ausgebildet und dafür werden wir bezahlt«, sagt W. Öffentlicher Dienst mit anderen Mitteln.
Vor vier Monaten hat Ulrike von Pilar einen Vortrag gehalten. Über Afghanistan. »Katastrophe ohne Schlagzeilen« hieß ihr Bericht. Die Geschäftsführerin von »Ärzte ohne Grenzen« erzählte einer Hand voll Journalisten von ihrer Reise durch das Land. Von Kindern, die Gras und Wurzeln kauen. Und davon, dass die meisten Flüchtlinge, die weltweit umherirren, aus Afghanistan stammen. Nun interessiert sich beinahe jeder für das Drama. »Es ist wie immer«, sagt Frau von Pilar. »Erst muss sich eine andere Katastrophe ereignen.«
Fußnote in der Geschichte
Ulrike von Pilar hat viel Elend gesehen auf ihren Reisen. Sie war in Ruanda, wo 1994 eine Million Menschen niedergemetzelt worden waren. Das Schlimmste, was in den vergangenen Jahren passiert ist, sagt sie. Jetzt haben Terroristen den Nerv der reichen Staaten getroffen. Ulrike von Pilar will nicht relativieren, ein Entsetzen gegen das andere ausspielen, den Schmerz, die Trauer. Und doch wundert sie sich in diesen Tagen: dass nämlich die Terrorattacken »als nie dagewesener Angriff auf die Zivilisation betrachtet werden«. Der Völkermord in Ruanda werde offenbar als Fußnote in der Geschichte gewertet.
Ulrike von Pilar sagt zornig: »Wir sind in unseren reichen Ländern große Katastrophen nicht mehr gewohnt. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass man sozusagen ein Grundrecht hat auf ein Leben ohne äußere Bedrohung. Wir haben nur Glück gehabt - bislang.«
Rupp Doinet, Ingrid Eissele, Markus Grill, Uli Hauser, Martin Knobbe, Detlef Schmalenberg, Bernd Volland, Jan Christoph Wiechmann