Last Call Klatschmohn, Karneval und Kriegstote

Last Call: Klatschmohn, Karneval und Kriegstote

Ein paar Dinge vermissen wir in England. Es sind nicht viele, aber ein paar sind es doch. Schwarzwälder Schinken beispielsweise. Oder Grünkohl, gerade in dieser Jahreszeit. Manchmal vermisse ich die Sportschau. Aber das wäre es auch schon.

Ein paar Dinge vermissen wir in England überhaupt nicht. Am allerwenigsten vermissen wir den deutschen Karneval. Karneval oder Fasching oder Fastnacht ist Glaubens- oder Sozialisationssache. Mit dem Karneval verhält es sich ungefähr so wie mit Bayern München. Entweder man mag’s. Oder eben nicht. Dazwischen liegt keine lauwarme Grauzone. Ich mag beide nicht, Karneval sogar noch weniger als Bayern München und halte beide – welche Koinzidenz – auch für komplett unlustig. Geschmackssache.

Wir hätten in diesem Jahr Karneval auch komplett und zurecht vergessen. Das geht in England, in Deutschland geht das nicht. Der 11. November ist in Großbritannien, Frankreich, Belgien und vielen Teilen des Commonwealth „Armistice Day“, der Tag, an dem der Toten des 1. Weltkriegs gedacht wird. Der Tag, an dem 1918 der Erste Weltkrieg endete. Außerdem gibt es auch noch den „Remembrance Sunday“, stets der zweite Sonntag im November. Es sind jedes Jahr große und wichtige Tage im Kalender der Nation, Millionen Briten tragen schon Wochen zuvor kleine rote Poppies am Revers, Papp- oder Plastik-Mohnblüten. Die Mohnblüte ist das Symbol der Schlachtfelder Flanderns.

In diesem Jahr, aus Anlass des 100-jährigen Kriegsjubiläums, war der 11. November besonders wichtig. Rund um den Tower von London entstand ein Meer aus Keramik-Poppies, „Blood Swept Land and Seas of Red“, eine Installation des Künstlers Paul Cummins aus 888 246 Blumen. Jede Blüte symbolisierte einen getöteten britischen Soldaten oder einen Gefallenen aus dem Commonwealth. Es war ein gewaltiges Meer, das seit dem Spätsommer dort wogte und pünktlich am 11. November seinen Scheitelpunkt erreichte, betörend und bedrückend zugleich.

Fünf Millionen Menschen sahen sich das an, es gab Staus am Tower und viele Diskussionen. Ein Kunstkritiker schrieb, es sei unangemessen und fast unmoralisch, das Leid des Krieges zu ästhetisieren. Er trat damit eine Debatte los. Man kann grundsätzlich sagen: Das Gedenken an die Kriegstoten lässt in Großbritannien niemanden kalt. Auf Gräbern liegen Kränze, an Denkmälern sowieso. Das ganze Land, nicht nur der Graben um den Tower, ist ein rotes Meer aus Mohnblüten.

Wir waren auf Reisen Mitte November und hörten im Radio viele Geschichten und Gedichte über den 1. Weltkrieg, darunter Wilfred Owens grausam schönes „Dulce et Decorum est“, „süß und ehrenvoll ist es“. Jenes Meisterwerk des jungen Dichters, das die Schrecken des Gaskrieges lyrisch verarbeitet und in Großbritannien selbstverständlich zur Pflichtlektüre gehört. Stundenlang debattierten Menschen über den Krieg und die Poppies.

Abends saßen die Frau und ich in einem Pub, aßen und tranken und kamen mit zwei älteren Damen aus Birmingham ins Gespräch. Sie hießen Wendy und Sarah, waren Cousinen, pensioniert und fuhren viel durchs Land. Sarah war früher Krankenschwester, Wendy Lehrerin. Wir sprachen über England und Europa, beide große Freundinnen der europäischen Idee, beide weit gereist, auch nach Deutschland. Es war der Abend des 11. November, und wir hätten wie gesagt Karneval komplett und zurecht vergessen. Aber im Laufe des Gesprächs kamen wir auf die Poppies vor dem Tower und den Krieg, den ersten, und irgendwann fragte Sarah: „Wie begeht Ihr Deutschen diesen Tag?“. Ich räusperte mich etwas. Die Frau, aufgewachsen in England mit Poppies und Gedenken, sprach: „Die Deutschen feiern heute Karneval.“

Sarah und Wendy fragten unisono „really?“.

Ich versuchte zu erklären, dass der 11. November, 11 Uhr 11, in Deutschland schon seit dem früheren 19. Jahrhundert der Beginn der „crazy time“, der närrischen Zeit gewesen sei, fast 100 Jahre vor dem Frieden von Compiègne. Und die Zahl 11 bewusst gewählt, weil nicht teilbar außer durch eins und sich selbst. Zwei Einsen nebeneinander, gleichberechtigt, irgendwie närrisch, unbeugsam und widerspenstig. Außerdem: Uniformen als Verkleidung (!), verklausulierter Scherz und einst getarnter Protest gegen napoleonische Besatzung im Rheinland, ganz undeutsch. Lustig, oder? Ich kam mir bei der Erklärung des deutschen Frohsinns vor den beiden Cousinen ziemlich dämlich vor. In Großbritannien brauchen sie schon deshalb keinen Karneval, weil Briten von Natur aus ganzjährig witzig und humorvoll sind und sich ihnen ergo das Konzept einer närrischen Jahreszeit nicht so richtig erschließt. Ich halte es da sehr mit den Briten.

Sarah und Wendy hörten sich das alles aufmerksam an. Sie nickten hier und da und sagten freundlich „really?“. Aber so richtig verstehen konnten sie nicht, dass Deutsche am Jahrestag eines Krieges, dessen Verlauf die europäische Geschichte bis heute beeinflusst, nicht ihrer gefallenen Soldaten gedenken. Die Frau sagte dann noch, es gebe immerhin einen Volkstrauertag. Und die beiden Damen nickten wieder, schienen aber nicht restlos überzeugt. Wendy, die Lehrerin im Ruhestand, war früher mit ihren Schülern nach Belgien gereist und hatte die Schlachtfelder besichtigt und die Gräber und festgestellt, dass die Gräber der Deutschen verrotten und sich offenbar niemand kümmert. Das hatte sie traurig gemacht.

Sie zeigte auf etwas, was ich für eine weiße Brosche gehalten hatte. Aber es war keine Brosche, sondern eine kleine weiße Mohnblume aus Pappe. Sie sagte: „Seit ich die Gräber in Flandern gesehen habe, trage ich im November eine weiße Blüte. Sie steht für alle Toten dieses Krieges. Also auch für die Deutschen.“

In diesem Moment waren mir Pappnasen und Karneval in Deutschland noch ferner als je zuvor.