Last Call Während Sie das hier lesen, werden Sie überwacht

Manchmal bin ich etwas paranoid. Die Frau hat sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt. Ich sehe oder fühle Dinge, die gar nicht da sind. Ein bisschen wie Hypochondrie. Nur etwas komplizierter. Es ist nämlich so: Wir haben früher in den USA gelebt und wurden - davon kann man ausgehen - überwacht. Die Herrschaften machten nicht mal einen großen Hehl daraus, Journalisten zu überwachen. Das war in Amerika, und das war dort offenbar normal.

Und hier ist es so: In unserer Straße parkt regelmäßig ein weißer Kastenwagen, direkt vor unserem Haus. Auf dem Dach befindet sich eine merkwürdige Apparatur, die sich dreht. Sieht aus wie ein Sender. Oder ein Empfänger. Ich weiß es nicht. Ich verstehe auch nichts davon. Aber ich vermute den Geheimdienst dahinter. Die Frau sagt, das sei nur eine Lüftung, und vielleicht transportiere der Besitzer einfach nur leidenschaftlich gern Käse.

Das ist natürlich möglich. Aber die Briten tun auch alles, um meine paranoiden Anflüge zu unterfüttern. Ihr Geheimdienst GCHQ (Government Communication Headquarters) ist eine Art kleiner europäischer Bruder der NSA, vielleicht sogar eher ein Schoßhund der NSA. So wie Tony Blair früher mal Schoßhund von George W. Bush war. Die britischen Spione spionieren überall und natürlich auch in Deutschland. Auch Ihre Daten könnten auf englischen Servern landen. Zum Beispiel, dass Sie diesen Blog gelesen haben. Das ist durchaus möglich. Eigentlich muss David Cameron froh darüber sein, dass sich der deutsche Ärger fast ausnahmslos auf die USA und die NSA fokussiert. Denn sein GCHQ ist keinen Deut harmloser. Er segelt lediglich im Windschatten und ein wenig unter dem Radar. Das liegt vielleicht sogar in der Natur von Geheimdiensten, macht die GCHQ aber kein bisschen sympathischer. Über das Unwesen von NSA und GCHQ wissen wir glücklicherweise durch Edward Snowden.

Das Gesetz flutschte so durch. Keinen hat's gekümmert

In der vergangenen Woche beschloss das Parlament mit überwältigender Mehrheit, ein verschärftes und erweitertes Überwachungsgesetz so schnell wie möglich durchzupeitschen. Es ermöglicht zum Beispiel, Firmen außerhalb Großbritanniens auszuspionieren und verpflichtet Internet- und Telefonanbieter, Daten von e-Mails, Telefonaten und Textmitteilungen für wenigstens 12 Monate zu speichern und bei Bedarf der Polizei zu übergeben. Das gilt auch für ausländische Anbieter. Die Regierung behauptet, dass sei notwenig und zeitgemäß.Es nennt sich Notfall-Überwachungsgesetz und geht weit über geltende EU-Rechtssprechung hinaus. Der ganze Vorgang ging in der britischen Öffentlichkeit fast komplett unter, weil die Medien erst mit David Camerons Regierungsumbau, dann mit dem Flugzeugabschuss in der Ukraine und obendrein mit einer Cricket-Testspielserie gegen Indien beschäftigt waren.

Das wäre eine Erklärung.

Die andere ist: Selbst ohne Regierungsumbau und Ukraine und Cricket hätte es keine Sau ernsthaft interessiert, außer den üblichen Watchdog-Gruppen, einem Kreis kritischer Netz-Akademiker, der Redaktion des liberalen „Guardian“ und ein paar wackeren Labour-Abgeordneten, dessen mutigster Vertreter Paul Watson von einem „demokratischen Banditentum“ sprach, das einem Schurken- und Überwachungsstaat gut stehen würde.

Sein kleiner Wutsausbruch hat auch keine Sau interessiert.

England hat eine ganz eigene Geschichte mit Spionen

Als Kontinental-Europäer und Deutscher zumal ist man doch überrascht über die laxe Haltung der Briten zum Thema Überwachung. In Großbritannien hängen nach konservativen Schätzungen zwischen fünf und sechs Millionen Überwachungskameras. Eine Kamera kommt im Schnitt auf elf Bürger. Es gibt hier mehr von diesen Kameras als es Schotten gibt. Sie hängen überall. An Kreuzungen, in Pubs, in Kaufhäusern. Manchmal zeichnen sie Verbrechen auf, manchmal Verkehrsunfälle und manchmal auch nur Sex im Park oder im Aufzug. Die Briten haben sich an CCTV (Closed Circuit Television) gewöhnt. Man nimmt sie nicht wahr, aber sie sind da. Nun hat das Land auch eine etwas andere und sehr spezielle Vergangenheit mit Spionen und Überwachung. Die Männer, die während des Zweiten Weltkriegs in Bletchley Park die Nazi-Codes knackten, sind heute noch Helden. Außerdem natürlich 007. Und Großbritannien durchlitt IRA-Bomben und Anschläge auf Londoner U-Bahn und Busse. Mehr als zwei Drittel der Bürger fühlt sich mit den Kameras jedenfalls sicherer.

Mit der digitalen Überwachung verhält es sich vielleicht ähnlich wie mit den allgegenwärtigen Kameras. Man sieht sie nicht, man fühlt sie nicht. Aber sie sind da. Die Briten haben sich daran gewöhnt wie an CCTV und regen sich nicht mehr auf.

Das regt mich auf.

Manchmal frage ich mich, warum Edward Snowden im russischen Exil sitzt und seine Existenz auch dafür geopfert hat, auf dass alle Welt nun weiß, was NSA und GCHQ so treiben mit ihrer Überwachung. Er tut mir wirklich leid. Er hat so viel Trägheit nicht verdient. Gerade hat er sich wieder zu Wort gemeldet. Ihn erinnert das neue britische Gesetz an den „Protect America Act“, ein Gesetz, dass Bush junior durch die Häuser jagte unter ähnlicher Agenda: Kampf gegen den Terrorismus. Snowden sagte das in einem ausführlichen Gespräch mit dem „Guardian“. Es ist das einzige Blatt in Großbritannien, dass immer und immer wieder gegen die Datensammler anschreibt und deshalb fast in den Rang des Landesverrats getrieben wird.

Der Chefredakteur des „Guardian“, Alan Rusbridger, musste sich sogar im vergangenen Dezember vor einem Untersuchungsausschuss befragen lassen, nachdem seine Zeitung nach sorgfältiger Prüfung die Snowden-Dokumente veröffentlicht hatte. Rusbridger wurde von einem Abgeordneten allen Ernstes gefragt, ob er sein Land liebe. Es war ein durch und durch unwürdiges und schäbiges Spektakel. Es erinnerte an die McCarthy-Verhöre der 50-er Jahre in Amerika. Rusbridger war dann großartig bei dieser Anhörung, ein Held des aufrechten Journalismus. Seit diesem Tag habe ich den „Guardian“ abonniert, obwohl man ihn online kostenlos lesen kann.

Viele konservative Kommentatoren machen sich in der Überwachungssache zu peinlichen Steigbügelhaltern der Regierung. Sogar die Labour-Opposition machte sich zum Steigbügelhalter der Regierung. Auch das war ein unwürdiges Schauspiel. Cameron bestellte die Chefs von Labour und Liberaldemokraten in die Downing Street, und die parierten wie Pudel. Das Gesetz flutschte so durch, und kaum einer hat’s gemerkt. England schaute Cricket.

P.S.: Gegenüber von unserem Haus hängt auch eine CCTV-Kamera. Sie hängt gut versteckt in einem Baum. Trotzdem wurde gerade ein Fahrrad aus unserem Hausflur geklaut.

P.S. II: Der weiße Kastenwagen steht immer noch da. Neulich sah ich erstmals den Besitzer. Es ist ein alter Mann. Ich fragte ihn so unauffällig wie ich konnte nach dem Auto, als Deutscher ist man unverdächtig, wenn man nach Autos fragt. Er sagte: „Citroen, Automatik-Getriebe, Baujahr 2007.“ Dann fragte ich ihn so unauffällig wie ich konnte nach der komischen, drehenden Apparatur auf dem Dach. Als Deutscher ist man unverdächtig, wenn man sich für Technik interessiert. Er sagte: „Ach das Ding da? Stammt noch von meinem Vorbesitzer. Der war Fisch-Händler.“