UNO-Sitz Art Déco über dem See

Der Architekturwettbewerb um den Genfer "Palast der Nationen" endet in einem halbherzigen Kompromiss. Ein internationales Team erbaut 1929 den Hauptsitz des Völkerbundes. Doch der Entwurf ist nicht zeitgemäß.

Eigentlich will keiner der Delegierten aus London weg. In der Hauptstadt des britischen Weltreichs brodelt 1920 das Leben. Aber zehn Monate nach Gründung des Völkerbundes lässt sich der Umzug nicht mehr aufschieben. Ausgerechnet Genf muss es sein, das schon im Versailler Vertrag als Sitz vorgegeben wurde - ein ”des Nest in einem kleinen Land. Seit der Reformator Johannes Calvin die Stadt im 16. Jahrhundert zum Protestantismus bekehrt hat, klebt an ihr das Stigma puritanischer Langeweile.

Nicht einmal angemessene Räumlichkeiten

gibt es. Das einzige Gebäude, das groß genug ist, den Völkerbund zu beherbergen, ist das Hôtel National mit seinen 200 Zimmern. Dem Haus fehlt allerdings ein großer Tagungsraum. Für Konferenzen stellt die Stadt den "Saal der Reformation" in der Innenstadt zur Verfügung. Der ist so karg, wie sein Name vermuten lässt. Es gibt weder einen Aufenthaltsraum noch separate Räume für Komitee-Arbeit oder Besprechungen. Das Licht im Saal ist so schlecht, dass die Delegierten Mühe haben, Notizen zu machen.

Will der Völkerbund mehr sein

als die Improvisation einer Idee, muss ein geeignetes Hauptquartier her. Als Baugrund erwirbt man ein 66 000 Quadratmeter großes Grundstück am Ufer des Genfer Sees. Doch dann stiftet der amerikanische Millionär John D. Rockefeller dem Völkerbund fünf Millionen US-Dollar, inklusive zwei Millionen für den Bau einer Bibliothek. Dafür ist das Gelände zu klein - aber zum Glück hat Genf ein anderes Objekt zum Tausch anzubieten. Der Ariana Park, viermal so groß und ebenfalls am See gelegen, mit freiem Blick auf den Montblanc, war der Stadt einst von ihrem Bürger Gustave Revilliod geschenkt worden - mit Auflagen. Das Grundstück soll immer der Öffentlichkeit zugänglich sein. Das im Park gelegene Grab des Stifters muss ungestört bleiben. Und die Pfauen, die Familie Revilliod dort ausgesetzt hat, müssen bleiben.

Der Baugrund ist gefunden, nun fehlt nur noch das Gebäude. Doch wie sollen sich die Mitglieder einer Organisation, die schon in Fragen der Politik oft keinen Konsens finden, sich in Geschmacksfragen einigen? Ein Wettbewerb wird ausgeschrieben. Die Jury besteht aus sechs Architekten "einflussreicher Nationen": Österreich, Belgien, Großbritannien, Italien, Frankreich und der Schweiz. Ein Jahr später gibt es jede Menge gekränkter Eitelkeiten und einen halbherzigen Kompromiss. Ein internationales Team aus fünf Architekten wird mit dem Bau des "Palastes der Nationen" beauftragt.

Mit seinen Marmorfußböden,

überdimensionierten Bronzetüren und den harten Linien des Art déco weist der Völkerbundpalast eben jene Stilelemente auf, die typisch sind für die faschistische Bauweise der dreißiger Jahre. 1929 wird der Grundstein gelegt. Das Architekturprogramm preist das Gebäude als "durch die Reinheit des Stils und die Harmonie seiner Linienführung" wirkendes Symbol für "den friedlichen Ruhm des 20. Jahrhunderts". Noch vor Abschluss der Arbeiten erweist sich die Idee des "friedlichen Ruhms" als nicht zeitgemäß. Im Jahr der Fertigstellung, 1936, gelingt Mussolini die endgültige Eroberung Äthiopiens, und die Völker sind auf dem Weg in den nächsten Weltkrieg.

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Angelika Franz

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