Hans-Martin Tillack Günters Geflunker

"Günters Geflunker – Meine liebsten Märchen aus 1001 Amtsstuben", das ist der Titel eines neuen Buchs, in dem sich der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen über seinen Brüsseler Arbeitsplatz auslässt. Ach nein, sorry, das Werk des Kommissars heißt anders: "Europa in der Krise". Angeblich handelt es sich um ein Sachbuch. Tatsächlich gehört es in die Abteilung Fiktion. Wenn ein EU-Kommissar gleich zu Beginn eines Buches ankündigt, mit ein paar "gern gepflegten Mythen" aufzuräumen, dann erwartet man harte Fakten, knallhart auf ihren Wahrheitsgehalt getestet. Verheugen bietet das Gegenteil – er bindet den Lesern die EU-Bären gleich im Rudel auf.

Nichts sei dran an dem Mythos von der angeblich wuchernden Brüsseler Bürokratie, behauptet der SPD-Politiker zum Beispiel. "Wenn ich deutschen Medien Glauben schenken will, verfügt die Europäische Kommission über ein gewaltiges Beamtenheer, das seine Krakenarme bis in die letzte Gemeinde ausstreckt. Tatsächlich arbeiten in der Europäischen Kommission nur knapp mehr als 20.000 Bedienstete, weniger als die Berliner Verkehrsbetriebe Beschäftigte haben." Zitat Ende.

Das einzige, was an diesen Sätzen nicht falsch ist, ist die Rechtschreibung. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben 11.200 Beschäftigte (Stand Oktober 2005) – die EU-Kommission fast drei mal mehr. Sie beschäftigt schon seit vielen Jahren um die 30.000 Leute. Zur Zeit wird die Zahl auf knapp 34.000 aufgestockt. Verheugen müßte das eigentlich wissen – zum Beispiel aus einem Beschlussdokument, das er im Sommer 2002 mitverabschiedet hat. Um die Osterweiterung vorzubereiten, so hieß es dort, wolle die Kommission ihren Personalstamm um 3900 neue Leute aufstocken. Laut offizieller Kommissionsrechnung entsprach das 13 Prozent der bisherigen Beschäftigtenzahl. Was heißt das – gemäß den Gesetzen der Mathematik – für den bisherigen Personalkegel? Richtig, es waren 30.000. Ja, noch einmal, auch Günter Verheugen muß dieses Papier kennen, denn er hat es mitbeschlossen. Immerhin war er für die Osterweiterung der Gemeinschaft persönlich verantwortlich.

Falls er den Beschluß mitgefasst hat, ohne den Text zu lesen, hätte er zumindest gelegentlich bei den Haushaltsberatungen der Kommission aufmerken sollen. Im Jahr 2002 bezifferte Verheugens damalige Kollegin Michaele Schreyer in einer – öffentlichen - Budgetvorlage die Personalressourcen der Kommission für 2003 auf 29.083.

Zum Vergleich: Die obersten Bundesbehörden hatten 2002 laut Statistischem Bundesamt genau 23027 Bedienstete, davon 19527 Vollzeitstellen. Das heißt: Die EU-Kommission ist schon seit geraumer Zeit personalstärker als die deutsche Bundesregierung. Diesen Vergleich mag die EU-Kommission aber nicht. Sie vergleicht sich lieber mit irgendwelchen Stadtverwaltungen oder Verkehrsbetrieben, weil das so schön harmlos klingt.

Würde man zugeben, wie groß und einflußreich die Kommission ist, dann müßte man erklären, warum sie demokratisch so schwach kontrolliert wird. Das wollen Verheugen und Co. nicht. Also spielen sie das beliebte Brüsseler Versteckspiel – und tun so, als sitze die Macht ganz woanders. Angeblich sind es vor allem die nationalen Politiker, "die die europäischen Entscheidungen treffen" – das behauptet auch Verheugen.

Als ob nicht die EU-Kommission das Monopol auf neue Gesetzesinitiativen hätte – und die Gesetzestexte sogar zurückziehen kann, wenn das leidlich demokratisch gewählte Europaparlament zu weitgehende Änderungen verlangt. Tatsächlich räumt auch Verheugen ein paar Seiten später ein, dass die Kommission "eine der mächtigsten Institutionen der Welt" sei. Verheugen wörtlich: "Die Spielräume sind groß."

Noch vor ein paar Jahren klagte der Sozialdemokrat selbst sehr beredt über das Demokratiedefizit der EU. Das sei so schlimm, dass man einen Beitritt der EU zur EU ablehnen müßte, weil "demokratisch ungenügend". Jetzt wettert der selbe Verheugen über den "Mythos" eines Demokratiemangels. Dass es den gebe, sei "nicht leicht zu begründen".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Warum hat er seine Meinung geändert? Er erklärt es mit keinem Wort. Immerhin spricht er sich ein paar Seiten weiter dafür aus, dass die Parteien bei den Wahlen zum Europaparlament Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten aufstellen sollten. Das Parlament solle den Behördenchef dann wählen. Aber, so Verheugen, die Idee sei an den bösen Mitgliedsstaaten gescheitert: "Die Staats- und Regierungschefs mögen diesen Gedanken ganz und gar nicht."

Was der Kommissar unterschlägt: Die EU-Kommission und er, Verheugen, persönlich waren auch dagegen! Als der EU-Verfassungskonvent im Jahr 2002 über das Thema beriet, wollte die Kommission eine Wahl des Präsidenten höchstens mit Zwei-Drittel-Mehrheit erlauben. Das würde die Mitsprache der Bürger freilich gegen null reduzieren. Und Verheugen? Er argumentierte ebenfalls gegen die Wahl des Präsidenten. »Zum augenblicklichen Zeitpunkt" sei er "kein leidenschaftlicher Befürworter dieser Idee«, erklärte er zum Beispiel im Januar 2002 im Deutschlandfunk. Warum? Nun, »weil die Direktwahl des Präsidenten der Kommission – sei es durch das Parlament oder sei es durch die europäische Bevölkerung – natürlich einen ganz enormen Legitimationsüberhang schafft für diesen Kommissionspräsidenten«.

Was daran problematisch ist, erklärte er nicht. Bei anderer Gelegenheit warnte er dunkel, bei einer Wahl müßte die Kommission mit dem Verdacht leben, statt dem europäischen Allgemeininteresse »allein Parteiinteressen zu vertreten«. Wie es allen demokratisch gewählten Regierungen auf diesem Planeten gelingt, mit diesem schrecklichen Verdacht fertigzuwerden, hatte sich der politphilosophierende Kommissar Verheugen nicht überlegt.

Fest steht: Als der Konvent über eine Demokratisierung der EU beriet, legte sich Verheugen quer. Jetzt ist das Thema durch – und Verheugen ist dafür. Er bekämpft das Demokratiedefizit der EU nach dem Motto: Zustimmen, wenn die Ablehnung gesichert ist.

Für den Kommissar Verheugen ist das schön – er kann weiter ungestört schalten und walten. Schlecht ist es für die Glaubwürdigkeit Europas und für die Bürger, die aus der Ferne zuschauen dürfen. Sie lernen in dem Werk des Kommissars immerhin, dass man von ihm und seinesgleichen nicht erwarten soll, die Bürokratie zu kontrollieren: "Im sechsten Jahr meiner Mitgliedschaft in der Euro-päischen Kommission bin ich mir sicher, dass ich bei weitem nicht weiß, was sie alles tut."

Europa ist in der Krise, wohl wahr. Günter Verheugens Buch zeigt, warum das so ist: Weil es zu viele Leute in Brüssel gibt, die glauben, man müsse die Bürger nicht ernst nehmen – und könne ihnen beim Thema Europa ein X für ein U vormachen.