Hans-Martin Tillack Wer lenkt das EU-Fahrrad?

Historiker, so denken die meisten, sind sympathisch weltfremde Zeitgenossen, die im Archivkeller in staubigen Folianten blättern. Seit vergangenen Donnerstag weiß ich es besser. Historiker sind unverzichtbare Stützen der europäischen Integration. Gelernt habe ich das in Rom, der ewigen
Stadt. Ausgerechnet die finnische Regierung hatte einige handverlesene Journalisten zu einem Seminar eingeladen - in den Renaissanceräumen der Villa
Lante, hoch über dem Tiber. Die Villa ist seit 1950 im Besitz einer finnischen Stiftung. Und da Suomi gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, lud
das Außenministerium in Helsinki zur Diskussion über die großen Linien der kontinentalen Geschichte.

Historiker aus Deutschland, Finnland, Italien und Schweden mühten sich zu zeigen, dass Europa immer schon irgendwie eins war, jedenfalls seit
den Tagen des Römischen Reichs. Römisches Recht, katholische Päpste und christliche Pilger – alle irgendwie Geburtshelfer der EU, wie wir sie
heute kennen! Nationalisten könnten daraus keinen Honig saugen, mahnte der Ex-Premier Paavo Lipponen, der gerade in eine Kommission zur Rettung der
EU-Verfassung berufen wurde.

Klaus Herbers, Professor von der Uni Erlangen-Nürnberg, zitierte explizit ein vom damaligen Kommissionspräsidenten Romano Prodi eingesetztes
Komitee, das die Historiker als
Hiwis der EU-Maschinerie verpflichten wollte: Die ökonomische Integration reiche nicht aus, um die politische Integration zu begründen.
Da biete die Suche nach gemeinsamen historischen Wurzeln neue und stärkere Argumente.

Früher hätten die Nationalisten die Geschichte missbraucht, wurde geklagt. Heute dagegen dürfen die Historiker endlich einer gerechten
Sache dienen, nämlich der EU – auch wenn die allzu kurzatmige Orientierung an der jeweils geltenden EU-Linie auch Gefahren bietet.
Als es noch die gute alte EWG der Gründerjahre gab, sei das Interesse der Historiker am karolingischen Reich groß gewesen, berichtete
Thomas Lundkvist von der Universität Göteborg. Westdeutschland, Benelux, Frankreich, Italien – das war ungefähr das Reich Karls des Grossen.
Seit die EU weitaus größer geworden ist, kräht auch unter den Historikern kein Hahn mehr nach den Karolingern.

Jetzt, in der Villa Lante, zählte der finnische Forscher Tuomas Heikkilä sogar Byzanz und das alte Russland zu den Vorläufern der EU,
nicht aber das mit Ostrom geographisch ungefähr deckungsgleiche Ottomanische Reich – als ob auch Historiker erst den Ausgang der
Beitrittsgespräche mit der Türkei abwarten wollen, bevor sie sich wieder auf die Wurzelsuche machen...

Demokratie – so erinnerte man die Teilnehmer - kommt aus der Antike, die Idee „Europa“ stamme aus dem Mittelalter. Heute haben wir ein
gemeinsames Europa. Aber was ist mit der Demokratie passiert? Sollen die Bürger auf europäischer Ebene aufgeben, was erst die Griechen
der antiken Stadtstaaten und dann die Einwohner der modernen Nationalstaaten erkämpft haben?

Diese Frage liessen die Dozenten merkwürdig unterbelichtet – als sollten sich die Bürger vor lauter Stolz auf die goldene europäische
Vergangenheit nicht mehr so genau fragen, wer sie im Europa von heute eigentlich regiert. Als der italienische Professor Giuseppe Burgio
die Gründe für das französische Nein zur EU-Verfassung aufzählte, ließ er die vor allem in Frankreich verbreitete Kritik an der
mangelnden Demokratietauglichkeit des Vertragstextes einfach ganz weg.

Anders seine Ko-Referentin Teija Tiilikainen aus Helsinki: Das Fehlen von Legitimation und Demokratie sei das „Kernproblem“ der
EU, räumte sie ein. Merkwürdig nur, dass Tiilikainen zunächst selbst kein Wort darüber verlor, was sie getan hatte, um die Dinge
zum Besseren zu wenden. Immerhin war sie Mitglied des Brüsseler Konvents, der den gescheiterten Verfassungsentwurf erarbeitet hatte.
Aber das ließ sie erst mal unerwähnt. Wahrscheinlich aus Bescheidenheit. Später verteidigte sie den Text des EU-Grundgesetzes als
„Schritt in die richtige Richtung“.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Zu Tiilikainens Ehrenrettung: Sie lieferte eine gute Replik auf die ausgenudelte Metapher von der EU als Fahrrad. So wie das Zweirad, so muss angeblich
auch die Europäische Union ständig vorwärts rollen – sonst fällt sie um. Sie habe eine ganz andere Frage, erwiderte die Finnin:
Wer lenke das Fahrrad eigentlich?

Sie sollte diese Erkenntnis ihrem Landsmann Paavo Lipponen stecken – wenn er sich jetzt Gedanken macht, wie man den Verfassungstext verbessern kann.