Zwischenruf Armes Deutschland?

Die fetten Jahre sind vorüber - allen wird genommen. Die Erkenntnis ist bitter: Wir arbeiten zu wenig und zu teuer. Höchste Zeit, die Tarifverträge zu öffnen. Aus stern Nr. 39/2003

Die deutsche Wohlstandszwiebel wird geschält. Häutchen für Häutchen wird ihr abgezogen, Ring für Ring. Um endlich das Innerste freizulegen, den Kern der Malaise. In diesem Winter, wenn die Arbeitslosigkeit auf oder gar über fünf Millionen wuchert, gibt es keine Ausflucht mehr vor der Erkenntnis: Deutschland verarmt. Das ist ein schockierendes Wort, gewiss. Doch analysefähige Politiker führen es längst im Munde, wenn auch nicht in Talkshows oder gar im Parlament. Denn sie fürchten den Zorn ihrer Wähler.

Es meint nicht Massenarmut, es beschreibt, dass alle verlieren, ohne Ausnahme. Der Wohlstand, der sich naturgesetzlich zu vermehren schien, ist passé. Das Land braucht deshalb freilich nicht in Depression zu versinken. Endlich begriffen, kann, ja muss der Befund frische Energien freisetzen, Optimismus sogar. Und die Entschlossenheit, das deutsche Erfolgsmodell durch ein anderes zu ersetzen. Das aber bedeutet: Wir müssen länger und härter arbeiten, mitunter auch für weniger Geld, um im Wettstreit mit Leistungsfähigeren in der Welt zu bestehen. Und um überhaupt noch Arbeit zu haben.

Der Haushaltsplan - ein Märchenbuch

Der Staat ist längst verarmt, das immerhin lässt sich nicht mehr verheimlichen. Auf mehr als 1,3 Billionen Euro türmen sich seine Schulden. Der Haushaltsplan des Bundes erweist sich Jahr für Jahr als Märchenbuch, die Etats der Länder kippen in die Verfassungswidrigkeit, die der Kommunen sind nur noch Armutsberichte. Die Sozialversicherungen japsen nach Luft. Das hat Folgen, für alle. Armes Deutschland.

Es begann bei den Beamten: Weihnachts- und Urlaubsgeld wurden ihnen gekappt, die Arbeitszeit auf bis zu 42 Stunden verlängert. Nun kommen die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger dran. Es folgen die Arbeitnehmer, die Altersversorgung und Gesundheit teurer bezahlen müssen, und die Rentner, die sich auf dürre Jahre gefasst machen müssen. Dann die Freiberufler: Sie sollen der Gewerbesteuer unterworfen werden.

Wenn sich die Gewerkschaften versteifen, muss man sie brechen

Subventionskürzungen werden alle treffen, auch Bauern und Unternehmer. Apropos: Die Not vieler Mittelständler, denen Aufträge wegbrechen und Preise verfallen, Banken und Tarifverträge aber schwer auf den Schultern lasten, bleibt gewöhnlich im Dunkeln. Man parfümiert sich nicht gern mit Verzweiflung in diesen Kreisen - selbst wenn die Politik über die angeblich geschonten Wohlhabenden schwadroniert.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Die Stalinisten der Tarifpolitik

Häutchen für Häutchen, Ring für Ring wird von der deutschen Zwiebel geschält. Bislang aber haben wir nur von Beiwerk geredet, von Steuern, Subventionen und Lohnnebenkosten. Nun nähern wir uns dem Kern: den eigentlichen Kosten der Arbeit. Und das heißt: den Tarifverträgen und der Macht der Gewerkschaften. Die Schlacht zu schlagen gegen die Stalinisten der Tarifpolitik ist unabwendbar. Versteifen sich die Gewerkschaften, müssen sie gebrochen werden. Die historische Niederlage hätten sie verdient. Bewegen sie sich indes, haben sie selbst die Zukunft gewonnen.

Und die liegt in den Betrieben. Denn die Öffnung der Tarifverträge zugunsten betrieblicher Bündnisse für Arbeit ist der entscheidende Hebel, um Jobs zu verteidigen oder neu zu schaffen - und die sklerotische Wirtschaft einer Verjüngungskur zu unterziehen. Nur wenn die Betriebe in die Lage versetzt werden, Löhne, Arbeitszeiten, Urlaubs- und Weihnachtsgeld intelligent anzupassen, können sie dem Wettbewerb standhalten. Und der wird mächtig zunehmen, wenn Polen, Tschechien und Ungarn erst einmal der EU angehören.

Zwei Drittel der Arbeitsplätze in Ostdeutschland unterliegen heute schon nicht mehr Tarifverträgen. Kein Hahn kräht danach - täte er es, würden sie größtenteils vernichtet. Zeit, dass der Westen vom Osten lernt. Die Senkung der Löhne kommt selten in Frage, wohl aber die Verlängerung der Arbeitszeit. Denn im Westen wird 1446 Stunden im Jahr gearbeitet, im Osten 1467 - in den USA aber 1805 und in Japan 1859.

Die Regierung hofft, dass die Tarifparteien selbst eine Lösung finden. Das indes zeugt nur von Feigheit: Denn DGB-Chef Sommer malt eine "dauerhafte Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft" an die Wand - und zwei Drittel der SPD-Abgeordneten gehören dem DGB an. Union und FDP wollen nun betriebliche Bündnisse zulassen, sofern Betriebsrat und Belegschaft mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Aber warum nicht mit einfacher? Und warum dann kein betriebliches Streikrecht? Armes Deutschland? Ach, woher! Das Land ist reich an klugen Menschen. Und es würde wieder reich - nicht nur an intelligenten Lösungen.

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Hans-Ulrich Jörges