Zwischenruf Der Reformpakt

66 wirklich überzeugende Gründe, warum Deutschland nicht verloren ist. Aus stern Nr. 2/2006

Das Land steht am Beginn einer neuen Phase der Reformpolitik. Besser gesagt: Es kann am Beginn einer solchen Phase stehen, wenn die Akteure, und das sind nicht nur die Politiker, die Zeitenwende begreifen. Und sie gestalten. Das alte, das traurige Lied der Reformpolitik ist ausgesungen. Es stößt auf taube Ohren. Niemand will ihn mehr hören, den hässlichen Refrain: Alle müssen Opfer bringen, alle sind Verlierer, die Globalisierung zwingt zum Verzicht. Denn er ist falsch, in dieser Einseitigkeit und Eintönigkeit jedenfalls. Und er ist unglaubwürdig geworden. Denn einige sind Gewinner - und viele könnten es sein. Wenn der unumgängliche Umbau von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialsystemen von neuen Sicherheiten, verheißungsvollen Modellen der Partizipation und dem glaubwürdigen Versprechen sozialer Gerechtigkeit begleitet wird.

Die Zeit ist reif für einen gesellschaftlichen Pakt der Erneuerung. Für einen Reformpakt, der alle Akteure vereint: Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, ja selbst die Kirchen. Ähnlich dem New Deal in den USA der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Er muss Maß und Ziel der Umgestaltung beschreiben und den Menschen die Gewissheit geben, dass sie nicht verloren sind im Prozess der Globalisierung, sondern dass sie Sicherheiten haben, dass sie geschützt sind, dass sie Anteil haben an seinen Früchten. Eine Politik, die nur Verlust predigt und Angst sät, die sich dem Verdacht ausliefert, sie diene dem Kapital und nicht dem Gemeinwohl, findet keine Legitimation mehr.

Begreift das die Große Koalition, wagt sie den Reformpakt, hat sie gewonnen. Es ist das Projekt für 2006. Der Bundespräsident hat den Anstoß gegeben. In seinem viel diskutierten stern-Interview skizzierte er vergangene Woche den Reformpakt, ohne ihn so zu nennen: Niemand wird abgeschrieben, niemand vergessen - durch ein Grundeinkommen für alle und staatlich gestützte Kombi-Löhne für gering Qualifizierte. Horst Köhlers Kernthese aber ist: Wenn die Arbeitnehmer Abschied nehmen müssen von hart erkämpften Errungenschaften, wenn sie länger und billiger arbeiten müssen, damit ihre Jobs im Lande bleiben und ihre Produkte wettbewerbsfähig auf den Weltmärkten, dann müssen sie am Ende am Erfolg partizipieren: mit Gewinn- und Kapitalbeteiligungen. Das ist die Antwort auf den Veränderungsdruck der Globalisierung. Sie kann ein neues deutsches Modell der Teilhabe begründen, das erst die Freiheit eröffnet zu fantasievollen, nach Branche und Betrieb maßgeschneiderten Löhnen und Arbeitsbedingungen. Zu betrieblichen Bündnissen für Arbeit ohne den Makel der Erpressung der Belegschaft, der Unersättlichkeit des Kapitals.

Vieles ist denkbar: betriebliche oder tarifvertragliche Gewinnbeteiligungspläne; Investivlohnmodelle, die einen Teil der Einkommenserhöhungen in Kapitalbeteiligungen anlegen; Anteile am eigenen Betrieb, die durch Konkursversicherungen gedeckt sind; überbetriebliche Kapitalbeteiligungsfonds, die für alle Arbeitnehmer offen sind, auch für Angehörige des Öffentlichen Dienstes. Nichts davon geht ohne Arbeitgeber und Gewerkschaften. Der entscheidende Player aber ist die Politik, die das mit Nachdruck zum gesellschaftlichen Ziel erklären, beharrlich durchsetzen, gesetzgeberisch wie steuerlich fördern muss.

Das kann aber nur gelingen, wenn die Große Koalition eine zweite Sicherheit einbaut: gegen den Missbrauch der betrieblichen Bündnisse für Arbeit. Der Fall Conti, die geplante Schließung eines hochprofitablen Pkw-Reifenwerks in Hannover, wo sich die Arbeiter zu Lohnverzicht und zweieinhalb Stunden unbezahlter Mehrarbeit pro Woche verpflichtet hatten, das Management nun aber doch aussteigen, 320 Jobs vernichten und ins noch billigere Ausland flüchten möchte, darf nicht Schule machen. Dieses Fanal erfordert eine politische Antwort. Die Große Koalition muss einen Weg finden, betriebliche Bündnisse mit Jobgarantien - ähnlich wie Tarifverträge - für verbindlich zu erklären. Kündigungen ohne Not ist ein Riegel vorzuschieben. Rasch, weil solche Bündnisse, die unverzichtbar sind in der Globalisierung, sonst gründlich diskreditiert sind. Und damit in Wahrheit erledigt.

Gewinn- und Kapitalbeteiligungen, daneben ein Sicherungsgesetz für betriebliche Bündnisse sind zentrale Elemente eines Pakts, der Veränderungsbereitschaft fördert, weil er sie belohnt. Und weil er den Menschen die Furcht vor dem Absturz nimmt. Ein neues Krankenversicherungssystem, die Bürgerpauschale - kombiniert aus lohnunabhängiger Prämie, solidarischer Versicherungspflicht für alle und Kinderfinanzierung aus Steuern - wäre ein weiterer Baustein. Finden sich Union und SPD auf diesem Weg, wird die CDU als das erkennbar, was sie sein möchte: als Partei der neuen sozialen Marktwirtschaft. Und die SPD als linke Volkspartei. Die Gewerkschaften gewinnen Zukunft, die Arbeitgeber soziale Legitimation. Der Reformpakt kennt keine Verlierer.

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Hans-Ulrich Jörges