Hübsch die Küche, wirklich. Kein Wunder, dass Bob, selbst picobello mit gestutztem Vollbart und feinem Jackett, fast vor Stolz platzt. Dieser Mamorboden! Die offenen Balken an der Decke! Die Schränke aus honiggelbem Holz! "Eigentlich sind sie ja nur aus Plastik", sagt er verlegen. "Wenn Sie sich hierher stellen, sehen Sie es."
Seine Frau Marjan führt derweil durch Wohn- und Schlafbereich. Viele steile Treppen gilt es dabei zu überwinden, denn die Wohnung des Ehepaares erstreckt sich immerhin über zwei Etagen in einem engen Vorderhaus, drei Etagen im Hinterhaus und das Erdgeschoss eines Zwischenbaus. Obwohl keiner der Gäste die Bewohner kennt, dürfen sie das Bad besichtigen und sogar die Schränke neben dem Ehebett bestaunen, deren Innenseite Marjan akkurat mit Gepardenbildern beklebt hat.
Bobs und Marjans Amsterdamer Zuhause ist Teil einer Serie ungewöhnlicher Stadtbesichtigungstouren und heißt "Gluren bij de Buren", "Bei den Nachbarn reinlugen". Knapp zwölf Millionen Touristen reisen jährlich in die niederländische Hauptstadt. Doch das Lebensgefühl einer Metropole zu ergründen gelingt selten bei einem Kurztrip. Das möchte Raoul Serrée ändern, Betreiber der Agentur "Van Aemstel Produkties". "Wer nach Amsterdam kommt, besucht das Anne-Frank-Haus und das Rijksmuseum. Danach geht es meist schnell wieder zurück nach Hause", sagt Serrée. "Auf meinen Touren trifft man echte Amsterdamer." Und bekommt Ein blicke in eine ganz persönliche, garantiert fremde Welt.
Intime Einblicke von Einheimischen
Mal geht es auf schaukelnde Hausboote, mal in enge Wohnstudios. Wer möchte, kann sich von Homosexuellen die einschlägigen Bars in der Altstadt zeigen lassen oder von einem Obdachlosen seinen Lieblingsschlafplatz. Das Angebot ist schillernd und abwechslungsreich - eine Erweiterung des Horizonts immer garantiert.
Doch nicht nur in Holland kann man sich von Einheimischen führen lassen. Das Konzept liegt im Trend: In Paris haben sich engagierte Einwohner zum Netzwerk "Parisien d'un jour, Parisien toujours" zusammengeschlossen. Sie bieten zwei- bis dreistündige Führungen durch verschiedene Viertel an. Wer nicht zum ersten Mal in der französischen Hauptstadt gastiert, weiß diesen Dienst zu schätzen. Denn wenn Montmartre, Tuilerien und Jardin du Luxembourg abgehakt sind, wünscht man sich nichts sehnlicher als eine heiße "Crêpe au sucre" in einem netten Café abseits der Touristenfallen.
Den Reiz von Städten machen nicht nur deren Sehenswürdigkeiten aus, zu denen man in der Regel mit Hilfe eines gefalteten Stadtplans pilgert, sondern auch die verborgenen, kleinen Restaurants und die weniger bekannten Plätze. Den Weg dorthin kennt niemand besser als die Menschen, die vor Ort leben und arbeiten. Sie wissen um die besten Bistros, die angesagten Modeläden, die hippen Bars. Und neuerdings sind manche sogar so freundlich und stellen ein Sofa für die Nacht zur Verfügung. "Couchsurfer" reisen so für wenig Geld um die ganze Welt. Sie kommen für einige Tage, schlafen auf dem Ausklappsofa und nehmen am Alltag ihres Gastgebers teil. Es wird zusammen eingekauft, gekocht, geredet. Über die Couchsurfer-Portale finden sich aber auch Freiwillige für Stadtführungen. Und das rund um den Globus. Egal, ob Rostock oder Rio - überall öffnen sich die Türen.
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Amsterdam aus der Sicht von Arbeitslosen
Um Stadtbewohner aufzutreiben, die bereit sind, Fremden gegen Entgelt ihre Privatsphäre zu zeigen, setzte Serrée Annoncen in die Zeitung. So lernte er René kennen. Zehn Teenager hat der 50-Jährige an einem strahlenden Samstagnachmittag um sich versammelt. "Nur zu, ihr dürft alles fragen", ermuntert er die drei Jungs und sieben Mädchen. Die Jugendlichen aus Deutschland aber sind schüchtern. Denn René ist obdachlos. Fast alles an ihm ist grau: die Haare, seine Augen, sein T-Shirt, die Haut. 209 Euro Sozialhilfe bekomme er im Monat, sagt René, um die Stille zu füllen. Seit zehn Jahren habe er kein Zuhause, seit drei Jahren wohne er in einem Zelt an einem der vielen Kanäle der Stadt. Kein schlechtes Leben, findet er. Er besitzt einen Elektrorasierer, duscht gern bei Freunden und ist dank der Computer in der Stadtbücherei sogar per E-Mail zu erreichen.
Er führt die Gruppe entlang der klassischen Sehenswürdigkeiten, vorbei an giebeligen Kanalhäusern, malerischen Grachten und kopfsteingepflasterten Gassen. Er berichtet, dass am ehemaligen Stadttor De Waag, wo einst die Handelsleute ihre Waren wogen, früher einmal eine öffentliche Pumpe gestanden habe, an der sich Menschen ohne feste Bleibe gern wuschen. Und er bringt die jungen Deutschen in den Barndesteeg Nummer 6a, einen behäbigen Bau, der eine Amsterdamer Suppenküche beherbergt. "Meine Besichtigungstouren sollen Spaziergänge durch eine interessante Gegend mit einer spannenden persönlichen Geschichte kombinieren", sagt Serrée. Als es darum ging, Guides für eine Tour durch die homosexuelle Welt Amsterdams zu finden, besuchte er selbst die Klubs und fragte dort, wer Lust dazu habe.
Statt langweiliger Kirchen persönliche Geschichten
Wo immer es auch hingeht, die Stadt präsentiert sich lebendig und facettenreich. Mal spießig, mal weltoffen, mal sozial mitfühlend, mal kühl berechnend. Jede Tour bereichert einen gewöhnlichen Städtetrip. Und wenn die Gäste Amsterdams die teuren Cafés und manchmal langweiligen Kirchen längst vergessen haben - an die entzückende lila Tulpenvase auf einem der Hausboote oder die Gepardenbilder in Marjans Nachtschränkchen denken sie womöglich mit Rührung zurück.
Tipps und Adressen | |
Die beschriebenen Stadtführungen sind buchbar über: Bureau Van Aemstel Produkties, Tel.: +31/206 83 25 92, www.amsterdamexcursies.nl | |
Paris | Die Führungen mit "Parisien d'un jour, Parisien toujours" mindestens zwei Wochen im Voraus unter www.parisiendunjour.com buchen. |
London | Als eine Art Kennenlernprogramm war die Seite www.voiceofacity.com gedacht. Einheimische aus London und Paris geben sich gegenseitig Ausgeh- und Kulturtipps, davon profitieren auch andere Touristen. Die Tipps für Paris sind in englischer Sprache, die für London auf Französisch. |
Weltweit | New York: www.bigapplegreeter.org |
Chicago: www.chicagogreeter.org | |
Toronto:www.toronto.ca/tapto | |
Buenos Aires: www.cicerones.org.ar | |
Tokio: www.tourism.metro.tokyo.jp | |
Jamaica: www.visitjamaica.com | |
Schlafen auf fremden Sofas | www.couchsurfing.com |