City-Trip Neapel Und täglich grüßt der Feuerberg

Von Daniela Horvath
Die gefühlte Temperatur der Stadt? Heiß. Kein Wunder. In ihrem Rücken brodelt der Vesuv. Die Wäsche weht in den Gassen, und im Camorra-Viertel kämpft ein Pfarrer in Sneakers für den Wandel.

Wer durch die Via Pignasecca spaziert, könnte meinen, die Absperrung eines Filmsets übersehen zu haben. Auf der Marktstraße in der Altstadt keift eine Gemüsehändlerin mit grellroten Lippen einer Vespa hinterher, auf der eine Kundin mit einem halben Dutzend Plastiktüten am Lenker und drei sich festklammernden Kleinkindern davonknattert. Gegenüber rührt ein Metzger mit Frankenstein-Visage stoisch in einem Kessel dampfender Rindereingeweide, die später als Spezialität des Hauses tropfnass im Schaufenster hängen werden.

In der Luft hängt das Aroma gebratener Artischocken, die ein Straßenverkäufer auf seinem winzigen Holzkohlegrill gart. Sein Werbegeschrei geht unter im Konzert der drei alten Männer, die nebenan auf eine Batterie Müllblechtrommeln einschlagen, als nahte das Jüngste Gericht.

Im Gedränge der Menschen werde ich vorangeschoben, immer weiter, vorbei an überfüllten Kaffee-Bars Bis und den langen Verkaufsbänken einer asiatischen Großfamilie, die Synthetik-BHs in Neonfarben und mörderischen Übergrößen anbietet.

Bürgermeister der Hoffnung

In Neapel ist alles in Bewegung, ständig. Motorroller und verbeulte Kleinwagen jagen die kurvigen Sträßchen hinauf zu den Vierteln der Oberstadt, um dann gleich danach wieder hinunter Richtung Meer zu rasen. Dabei dreht sich diese Stadt meist nur um sich selbst. Der Schriftsteller Tiziano Scarpa beschreibt es so: "Was uns Neapolitaner antreibt, ist die Illusion, wir hätten ein Ziel. Und sei es, uns am Ende aus dem Nichts eine Beschäftigung zu erfinden."

Niedergang und Aufstieg lösen sich in Neapel ab wie Gezeiten. Nach Jahren des Müll-Notstands, der wie ein stinkendes Menetekel über der Stadt hing, weckte zuletzt ein junger Bürgermeister, der frühere Anti-Korruptions-Staatsanwalt Luigi de Magistris, vorsichtige Hoffnung: Gleich zu Amtsbeginn gab er seinen Neapolitanern den dauerverstopften Lungomare Caracciolo als verkehrsberuhigte Strandpromenade zurück, seither herrscht jedes Wochenende Volksfeststimmung.

Illusionen, der Neue im Rathaus habe ernsthafte Chancen im Kampf gegen die Mafia, macht man sich aber nicht. Denn jeder weiß, dass sich die Camorra wie ein Schmarotzer im Gewebe Neapels festgefressen hat, nahezu jeden Winkel der chronisch überschuldeten Stadt kontrolliert, allen guten Absichten des neuen Bürgermeisters zum Trotz.

Neapolitanische Überlebensgene

Im dunklen Buchladen von Edgar Colonnese, einem der ältesten am Ort, geht es um die Lesarten der neapolitanischen Seele. Es riecht nach Zellstoff, Leim und Staub, Bücher und Bilder füllen jeden Zentimeter des Geschäfts. Colonnese, ein Mann Ende vierzig, zerzauste Haare, wirkt selbst wie ein Schriftsteller, ein Mann, der geistreiche Debatten liebt und sie mit entschiedenen Gesten begleitet. So hat er inmitten der Hektik Neapels einen Ort zum Innehalten geschaffen. Wie schon sein Vater gibt er liebevoll gestaltete Folianten heraus, in denen sich die Stadt literarisch spiegelt, Texte von Goethe, Dickens, Malaparte und Andersch; zudem verlegt er junge heimische Autoren. "Pizza, Pulcinella und Mandolinen - die Neapel-Klischees gelten immer noch", sagt Colonnese. "Eigentlich müssten wir längst untergegangen sein, aber wir besitzen wohl besondere Überlebensgene."

Übernommen aus:

Geo Saison, Heft Mai 2014, ab sofort für 6 Euro am Kiosk. Hier finden Sie den ungekürzten Artikel über weitere City-Trips in den Frühling sowie den ausführlichen Serviceteil zu Neapel.

Ich selbst kenne diese bildschön vor sich hin bröckelnde Stadt seit Jahrzehnten, bin aber immer noch nicht schlau aus ihr geworden; finde sie meistens anbetungswürdig, manchmal abscheulich. Sprich mit Graf Gianantonio Garzilli, sagten mir alte Freunde, als sie hörten, dass ich über ihr Neapel schreiben würde. Also traf ich ihn, den Grafen, der seinen Stand in Perfektion vertritt: handgeschneidertes Sakko aus feinem Stoff, Seideneinstecktuch, ein Hauch Rasierwasser, der Handkuss nur angedeutet.

Er gehört einem Adelsgeschlecht an, von denen es im einstigen Königreich Neapel viele gab, rund 6000 Familien im 16. Jahrhundert, so viele wie wohl nirgendwo sonst in Italien. Ihre Erben prägen die Stadt bis heute mit ihren Kunstschätzen, ihren Kulturzirkeln und Benefizprojekten.

Traumlage am Golf

Seit ihrer Gründung durch die Griechen vor 2500 Jahren war die Stadt unter dem Vesuv von unwiderstehlicher Anziehungskraft für alle europäischen Kulturen und Wenn Eroberer. Ihre Traumlage am Golf und der Glanz ihrer Barockkirchen erhob den Sitz der Könige von Neapel und Sizilien lange zur mondänsten Metropole neben Paris. Und immer war sie dabei von der Aura des drohenden Untergangs umweht, an den der majestätische Vesuv genauso erinnert wie das pompejanische Rot der Palazzi.

Wir stehen vor der Lieblings-Pasticceria des Grafen, "Scaturchio", im Schaufenster leuchten goldene Teigteilchen und gelber Limoncello. Hier müsse ich die "sfogliatelle" probieren, die besten der Stadt, sagt er, bevor er mich verlässt. Puderzucker fliegt auf, als ich in den knusprigen Blätterteig beiße und auf die süße Ricotta-Füllung stoße - der Graf, denke ich dankbar, hat Geschmack.

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