Ein älteres Ehepaar unterbricht seinen winterlichen Sonntagsspaziergang am Ufer der Limmat und schaut ungläubig hinüber auf den Pier 7, wo sich eine Horde halbnackter Gestalten mit roter Zipfelmütze auf dem Kopf die Glieder dehnt. Alle anderen in Zürich wissen natürlich Bescheid: Weihnachten steht vor der Tür, denn das hier ist das Samichlaus-Schwimmen. Samichlaus, so sagt man in der Schweiz zu Sankt Nikolaus, und als solcher verkleidet nehmen über 200 tapfere Schweizer die 111 Meter lange Strecke zum Frauenbad auf die andere Uferseite in Angriff. Der tiefere Sinn des Ganzen? "Gibt es nicht", sagt Organisator Stefan Weiss, "es ist einfach nur ein Mordsspaß."
Kurz vor dem Start drängeln sich die leicht bekleideten Christkinder im gläsernen Unterstand auf dem Pier in bester Partystimmung zusammen. Zwei junge Damen mit Rentierbadekappe stopfen fröstelnd die letzten Klamotten in ihre Kleidersäcke, gleich gegenüber schmiert sich ein gemischtes Trio fingerdick mit Melkfett ein, "weil das die Körpertemperatur oben hält", wie sie kundig erklären. "Das ist doch nur was für Weicheier", meinen dagegen drei Muskelprotze, die zusätzlich zur Nikolausmütze auch noch Schlips und Sonnenbrille tragen. Zur Rennvorbereitung gönnen sie sich einen Glühwein. "Mindestens sieben Grad hat das Wasser heute, das ist doch gar nichts. Wir gehen auch im Januar noch baden, das nennen wir dann Blaueier-Schwimmen." Schon macht es Platsch, und die durchtrainierten Weihnachtsschwimmer stürzen sich in die kalten Fluten der Limmat.
Na klar, Samichlaus wohnt im Waldhüsli
Wer die Vorweihnachtszeit in Zürich etwas traditioneller erleben möchte, der muss ein kleines Stück den Käferberg hinauffahren, ganz im Westen der Stadt. Denn dort oben - das weiß in Zürich jedes Kind - da wohnt der Samichlaus in seinem Waldhüsli, zusammen mit seinem Assistenten Schmutzli, einer etwas verlotterten Version des Knecht Ruprecht. Zahllose Kinder besuchen ihn in der Vorweihnachtszeit in seiner warmen Stube und sind mucksmäuschenstill, wenn er im Schaukelstuhl sitzt und Geschichten erzählt. Die vom Sankt Nikolaus etwa, oder warum es so wichtig ist, immer mit anderen zu teilen. Und damit sie das gleich üben können, drückt ihnen Schmutzli in seinem braunen Umhang beim Rausgehen noch ein paar Nüsslein in die Hand.
Unterhalten wird das Waldhüsli von der St. Nikolausgesellschaft Zürich, die es sich seit 1947 auf die Fahnen geschrieben hat, "den alten Brauch des Klausens in der Vorweihnachtszeit zu pflegen und weiterzuführen." Nach dem traditionellen "Einzug der Kläuse", einem großen Straßenumzug, am ersten Advent, kümmern sich die rund 1300 aktiven und passiven Mitglieder vor allem um die Kinder aus ärmeren Familien und um Alte und Kranke. "Zur Weihnachtszeit verteilen wir einige Tausend bunte Tüten und packen viele Pakete mit Kleidern, Büchern und Esswaren", sagt Dölf Hitz, Präsident der St. Nikolausgesellschaft. "Aber wir leisten auch direkt finanzielle Hilfe, wenn jemand in Not geraten ist."
Die Gesellschaft selbst finanziert sich durch die Mitgliederbeiträge und Spenden, aber auch durch "Klausbesuche". 80 Franken zahlt eine Familie dafür, wenn sie eines der 40 Samichlaus-Schmutzli-Duos inklusive "Eseli" für eine halbe Stunde zu sich nach Hause holen möchte, um dem Nachwuchs von höchster Instanz pädagogisch Wertvolles mit auf dem Weg zu geben. "Natürlich loben wir auch immer", sagt Hitz. "Alle unsere Mitglieder arbeiten ehrenamtlich und haben Freude daran, den Kindern die Weihnachtszeit zu verschönern." Du glückliches Zürich, denkt da der Deutsche, in dessen Land eben diese Dienstleistung nur zu oft von verwirrten Philosophiestudenten ab dem 15 Semester aufwärts und anderen wenig motivierten Geringverdienern erbracht wird.
Reisetipps
Anreise
Swiss Airlines bietet tägliche Direktflüge nach Zürich ab Hamburg, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und München. Informationen & Reservierung unter Telefon: 01803-000337 (9 Cent / min).
Hotel Widder
Übernachten im luxuriösen Widder-Hotel im Augustiner Quartier in der Züricher Altstadt. Die historischen Zimmer sind individuell eingerichtet, die Gäste können sich im Widder-Restaurant und der Widder-Bar verwöhnen lassen.
Kontakt:
Widder Hotel
Rennweg
8001 Zürich
Telefon: +41 - 44 224 25 26
Wie so viele andere Städte ist aber auch Zürich in Punkto Weihnachtsdekoration dem Gigantismus verfallen. Immer höhere Edelkiefern drängeln sich neben immer noch gigantischeren Weihnachtspyramiden, die Gesamtwattleistung der kilometerlangen Lichterketten mag man in Zeiten des Klimawandels noch nicht einmal schätzen. Einige der bekannten Confiserien sind geradezu abstrus überschmückt, geradezu hinreißend dagegen die engelsflügelschlagende Kuh mit Heiligenschein, die in Originalgröße auf dem Vordach eines Steak-Restaurants thront. "Europas größter überdachter Weihnachtsmarkt" am Züricher Bahnhof ist dagegen genauso so originell wie all die anderen Weihnachtsmärkte auch, nur dass man dort ständig die Züge quietschen hört und der Glühwein nicht recht munden will, da es in der Bahnhofshalle noch nicht mal richtig kalt wird.
Märlitram und "Singing Christmas Tree"
Es sind vielmehr die vielen kleinen Traditionen, die der Vorweihnachtszeit in Zürich einen besonderen Charme verleihen: Die Märlitram zum Beispiel, ein liebevoll dekorierter Straßenbahnwagen, der alle halbe Stunde durch die Altstadt gondelt, natürlich mit dem Samichlaus als Tramführer und zwei hinreißenden Engelsdamen, die ihren kleinen Passagieren während der Fahrt vorlesen. Und wer selbst bei diesem Anblick noch nicht in Weihnachtsstimmung kommt, der kann ja am Werdmühlenplatz vorbeischauen, wo sich im Dezember täglich eine andere Schulklasse auf einem großen, grün-gezackten Holzgestell als "Singing Christmas Tree" präsentiert.
Schokolade in der Schipfe
Eine ganz stille Tradition hingegen pflegt man in der Schipfe, einer kleinen Kopfsteinpflasterstraße direkt am Nordufer der Limmat. Jeden Tag um 16.00 Uhr hängen die Geschäftsleute dort kleine Süßigkeiten in die Weihnachtsbäume vor ihren Läden, mitnahmebereit für jedermann. "Ein altes Goldschmiede-Ehepaar hat vor vielen Jahren einmal damit angefangen, und wir führen diesen schönen Brauch gerne fort"; erzählt Kasper Fuchs, Inhaber eines Souvenirladens in der Schipfe. "Meistens müssen wir ganz schnell nachhängen, wenn die Kinder erst mal spitz gekriegt haben, dass es hier was Süßes gibt."
Gerstensuppe mit Brot, dazu einen heißen Glühwein, eher Deftiges gibt es im Frauenbad, nur ein paar Meter von der Schipfe entfernt, wo nach und nach die letzten Winterschwimmer eintrudeln, sichtlich gezeichnet vom Kaltwasserkraueln. Sogar die drei muskulösen Schlipsträger kommen zeitweilig ins Japsen, erreichen wohlbehalten, ohne sichtbare Verfärbungen das andere Ufer. Nur einer fehlt jetzt noch, natürlich, ein Samichlaus. Der hat sich in voller Montur, inklusive Rauschebart, in die Limmat gestürzt, das Gewicht der nassen Robe zieht ihn runter, nur quälend langsam kommt er voran. Das Publikum peitscht ihn über die letzten Meter und bricht in Jubelstürme aus, als er mit größter Mühe ein kleines Glöckchen über Wasser hält und damit bimmelt. Er erreicht den Steg, wringt den Mantel aus und ruft: "Ho ho ho, jetzt kann Weihnachten kommen!"