Blues, Jazz, Soul, Country und diverse Spielarten des Rock: Der Süden der USA hat die populäre Musik der Welt beinahe im Alleingang erfunden. Da muss man doch mal nachsehen, was es noch gibt, dachte sich unser Autor - und machte sich auf Spurensuche in Georgia, Alabama, Louisiana, Mississippi und Tennessee. Dabei entdeckte er neben Touristenfallen, durchgeknallten Rock 'n' Roll-Schwestern und verfallenen Grabstätten zum Glück auch jede Menge gute Musik.
MACON, GEORGIA
Soundtrack des Tages: "The Devil went down to Georgia"(Charlie Daniels Band)
In Macon sind es an diesem Morgen mindestens 42 Grad, grauenvoll heiß ist es, und ich sehe überall Engel. Ja, doch: Engel. Engel mit Moos auf dem Kopf, Engel mit Leichenbittermiene, Engel mit Spinnweben zwischen ihren Fittichen. Die Sonne knallt, der Schweiß rinnt, und der Engel sind so viele, dass wir zwischen den himmlischen Heerscharen längst die Orientierung verloren haben - wenn der Gehörnte zum Seelenfang wirklich mal hier war in Georgia, hat er sich besser schleunigst wieder davon gemacht. Sie bewachen übrigens Gräber, die Engel. Gräber, in denen Überreste von Menschen wie George Cullen liegen, "1842-1927, Gefreiter der Konföderierten Armee, schwer verwundet bei Manassas". Das ist nun auch schon ein paar Jahre her.
Efeubewachsene Musikgenies
Dass diese Reise auf einem Friedhof beginnt, passt irgendwie, das kann ich jetzt schon verraten. Und zwar nicht nur, weil die allermeisten der unmittelbar Beteiligten längst tot sind. Sondern auch, weil unsere Suche nach dem Grab von Duane Allman auf dem Rose Hill Cemetery bezeichnend ist für das, was da noch kommen soll. Hier unten, in jenen Staaten, die Romantiker gerne verklärend "The Ole' South" nennen, hier mag die populäre Musik zwar erfunden worden sein: Die Suche nach ihren Spuren aber ist eine mühsame Angelegenheit. Dieser Duane Allman zum Beispiel. Gestorben 1971, also lange nach George Cullen - aber offensichtlich schon genauso vergessen. Dabei war er mit seinen Allman Brothers nun wirklich Stil bildend, wenn es darum ging, quecksilbrige Gitarrenriffs so lange übereinander zu türmen, bis man auf ihnen hinauf zu Wolke Sieben kraxeln konnte. Southern Rock nannte man das damals. Und jetzt? Zugewachsen von Zeit und Efeu, zumindest seine Ruhestätte. Keine Plastikrose, kein Gitarrenplektrum, noch nicht einmal ein Teddybär. Gar nichts. Das ist schon traurig, finde ich. Das Grab hätten wir übrigens schneller finden können: Es ist das einzige mit kleinem Zaun. Und mit "Betreten verboten!"-Schild.
MONTGOMERY, ALABAMA
Soundtrack des Tages: "Sweet Home Alabama" (Lynyrd Skynyrd)
In Montgomery mögen sie uns überhaupt nicht. Jedenfalls nicht im Hank Williams-Museum - einer kleinen Gedenkstätte für den größten Sohn der Stadt, die unter einem grauen Himmel hockt, als brüte sie eine schwere Grippe aus. Hank war ja so was wie der Vater aller musizierenden Outlaws, ein Mann, der Whisky liebte und Morphium brauchte. Hank sang, dass die Nackenhaare Spalier standen, sang von Liebe, Tod und Teufel, sang treffliche Lieder wie "I am so lonesome I could die" oder "I will never get out of this world alive", was sich im bescheidenen Alter von 29 Jahren dann auch prompt bewahrheitete.
Der Blues im Südstaatenpatriotismus
Nun wird sein Erbe von einer Kuratorin verwaltet, die sich bei unserem Eintreten innerlich bekreuzigt. "Alles, was Sie über Hank Williams schreiben, muss uns vor Abdruck vorgelegt werden! Wir lassen nur absolut positive Berichte zu." Sie überlegt. "So, wie Sie aussehen, weiß ich allerdings schon, wie Ihr Artikel ausfallen wird." Was? Gar nicht wird er, gar nicht! Die wird sich wundern! Natürlich würde man jetzt gerne diskutieren, über Meinungsfreiheit und einiges mehr aus dem First Amendment, aber dann ruft sie wahrscheinlich gleich den Museumsanwalt an, das lassen wir lieber. Kein Wunder, dass Hank die Freiheit in der Flasche gesucht hat - anderswo ist die nicht zu finden in Montgomery, Alabama. Das Tribute-Album für unverschämte 24,95$ kann sie natürlich auch behalten. Da fahren wir lieber hinüber zur Hank Williams-Statue und lassen uns von den Moskitos zerstechen.
NEW ORLEANS, LOUISIANA
Soundtrack des Tages: "I wish I was in New Orleans" (Tom Waits)
In New Orleans müssen wir natürlich einiges recherchieren! Schließlich wurde hier der Jazz erfunden. Den Blues haben sie im feinen French Quarter ja nie gemocht, der galt immer als der zerlumpte Cousin von den Baumwollfeldern - aber den Jazz: Erfunden und zur Kunst ziseliert haben sie den hier. Auch sonst gibt es natürlich alles, von Cajun bis Karaoke, man weiß überhaupt nicht, wo man anfangen soll mit dem Musikhören. Überhaupt ist New Orleans nach der städtebaulichen Ödnis von Macon und Montgomery selbst nach "Katrina" eine Wohltat. Man kann zu Fuß durch die Quarterstraßen schlendern, bekommt einwandfreien Kaffee und muss vor allem nicht in diesen Südstaaten-Fastfood-Läden essen. In denen riecht es immer so komisch. Wie nach zu Kleister verkochten Pinguinen.
Oh Yeah!
Stattdessen fahren wir zum Dinner mit dem Streetcar hinaus in den Garden District. Da möchte man gerne wohnen! Überall diese mächtigen Bäume, überall diese majestätischen Kolonialvillen, überall diese schönen Frauen, die in den Gärten Rosen schneiden! Oh, Endstation Sehnsucht! Und auf dem Rückweg ist es sogar noch besser: Dann kann man in die Häuser hinein schauen, weil die Damen und Herren Hausbesitzer alles hell erleuchtet haben. Sehr schön ist das. Weniger gemütlich ist es dann allerdings anschließend bei Donna's: Als lade die Besitzerin ihre Gäste ins heimische Wohnzimmer ein, in dem sie aber leider seit 1963 nicht mehr aufgeräumt hat - so sieht's hier aus. Dafür gibt es hier die beste Brass Band-Musik überhaupt. Oh yeah!, ruft der Mann an der Tuba, oh yeah!, ruft jeder zurück, und dann legen die mit ihren Posaunen und Trompeten los, als habe die Stadtverwaltung von Jericho ein Abrisskommando angefordert. Das gefällt uns natürlich sehr gut. Auch, dass wir von hier gegen Hell zu Fuß nach Hause gehen können.
FERRIDAY, LOUISIANA
Soundtrack des Tages: "Strange Vibes in Ferriday" (Wolfman Jackson)
In Ferriday wollen wir Jerry Lee Lewis' Schwester besuchen. In ihrem gemeinsamen Geburtshaus, das jetzt ein kleines Museum ist. Wichtig für alle Nicht-Insider: Das Lee in der Mitte. Jerry Lee Lewis hat nichts mit dem beinahe gleichnamigen Komiker zu tun - Jerry Lee war ein Kumpel von Elvis, setzte auf der Bühne gerne sein Piano in Brand und war auch ansonsten eine Lichtgestalt des jungen Rock'n'Roll. Dann hat er seine noch jüngere Cousine geheiratet, 13 war die erst, und das kam nicht gut in einer Gegend, in der damals noch brennende Holzkreuze die nächtliche Landschaft erhellten. Und anschließend war es auch wenig hilfreich, dass Jerry nie so recht nachweisen konnte, seine nächste Ehefrau nicht erschossen zu haben. Weswegen sie ihn bis heute "the Killer" nennen.
Das Geschrei der Erbverwaltung
Jetzt werden wir in einem stockfinstren Raum mit einem imposanten Gewehrschrank aber zuerst einmal von Jerrys Neffen begrüßt, der seine Tante entschuldigt: Frankie Jean sei beschäftigt. Kaum hat er das gesagt, ist im Hintergrund ein schrilles Keifen zu hören. Und dumpfe Schläge. Der Neffe wischt sich mit einem zerfledderten Papiertaschentuch die Reste einer dicken Schicht Kajal ab, die sich in der Mittagshitze aus den Augenhöhlen heraus auf den Weg in die Freiheit gemacht hat. Dann fliegt eine Tür auf, und Frankie Jean stürmt in den Raum. "Keinen Cent!" keift sie zur Begrüßung, "Nichts gibt er mir! Seit 40 Jahren verwalte ich sein Erbe! Jedes Hemd! Jede Postkarte! Jedes Konzertposter!" Leider gibt es davon sehr viele im leicht modrigen Düster-Heim der Lewis', und Frankie Jean will sie alle zeigen und zu jedem Artefakt etwas schreien, und der Neffe schlurft die ganze Zeit hinterher, brabbelt vor sich hin und verschmiert sich die Augenhöhlen. Irgendwann wird mir ganz schwindelig. Ich kann ihren Anekdoten auch gar nicht mehr folgen. Deswegen verabschieden wir uns ganz schnell. "Grüßt den Killer von mir, wenn Ihr ihn seht!", schreit sie uns hinterher. Im Auto überlege ich, mich vielleicht auf Klassik zu spezialisieren.
TUPELO, MISSISSIPPI
Soundtrack des Tages: "Boy from Tupelo" (Emmylou Harris)
In Tupelo fahren wir gleich vor der Geburtsstätte des Königs vor. Ein nettes kleines Häuschen ist das! Kaum zu glauben, dass Elvis später so eine innenarchitektonische Monströsität wie Graceland bewohnt hat. Mary Ann versteht das auch nicht. Mary Ann verkauft die Tickets für das Elvis Birthplace Museum, und dieses Graceland drüben in Memphis, das mag sie schon aus Konkurrenzgründen nicht leiden. Einen ganz schlechten Einfluss hätten das Haus und die Großstadt auf ihren kleinen Elvis ausgeübt! All die Drogen! All der Alkohol! Und jetzt all diese Japaner! Wo die wohl alle her kommen würden, das frage sie sich. Wir fragen uns stattdessen, warum alle Musik-Kultstätten in diesem Landstrich von geriatrischen Schreckschrauben bewacht werden. Damals haben sie ihren Töchtern verboten, im Petticoat tanzen zu gehen - und jetzt tun sie so, als würden sie nach Feierabend zuhause Nine Inch Nails hören. Da kann man schon ein bisschen wütend werden.
Kein Alkohol am Tag des Herrn
Dementsprechend frustriert machen wir uns anschließend auf, um irgendwo in diesem Tupelo einen Drink aufzutreiben. Versuchen Sie das mal! Es ist nämlich Sonntag, und da wirft der Herrgott ein ganz gestrenges Auge auf seine Kinder in den Südstaaten. "Oh, ich trinke überhaupt nie Alkohol", flüstert unsere B&B-Besitzerin und surft weiter auf einer Internetseite für verlassene Hunde-Welpen. "Noho! No have today! Please! Noho!", ruft der chinesische Imbissbesitzer entsetzt. "No liquor! It's the day of the Lord!", echauffiert sich die Dame an der Tankstelle; der bereits aus der Kühltruhe gefischte Sixpack muss wieder zurück. Dann eben nicht. "Elvis has left the building", soviel ist mal sicher.
MEMPHIS, TENNESSEE
Soundtrack des Tages: Walking in Memphis (Marc Cohn)
In Memphis hat die örtliche Chamber of Commerce die Musik entdeckt: Sie schickt führende Mitarbeiter der Stadtverwaltung regelmäßig zum Brainstorming nach Disneyland, anders lässt sich der Rummel hier kaum erklären. Die prächtigen historischen Fassaden der Beale Street haben sie derart zugeknallt mit Neonreklamen, dass man die schönen historischen Fassaden nicht mehr sieht. Und dieser Ramsch! B.B. King-Aschenbecher für $9,99, hüftschwingende Muddy Waters-Figuren für $18.89 (inkl. Batterien), Klopapier mit aufgedruckten Blues-Noten für $2.49. Und dann gibt es noch ein gewaltig großes Rock 'n' Soul Museum. Und es gibt Graceland. Das muss man natürlich gesehen haben, wie sie da alle weinen an Elvis' Grab und Teddys nieder legen und dann weiter weinen. Hintendran steht immer ein Erste-Hilfe-Team, das ist wohl gut so. Ich glaube kaum, dass eine von diesen fassförmigen Besucherinnen von selbst wieder auf die Beine kommen würde. Später sehen wir sie in der Lobby des Heartbreak Hotels wieder. Da stehen sie in Sweatshirts mit großen Bassethund-Motiven vorne drauf und Shorts und Turnschuhen mit weißen Socken und schauen hinaus auf den herzförmigen Pool. Ich kann nur hoffen, dass sie gleich nicht alle auf einmal rein springen. Dann würde es mit dem Wasser knapp.
Whiskey an' Women
Zum Glück gibt es in Memphis aber auch noch Orte wie Wild Bill's. Das ist ein Platz wie aus dem Geschichtsbuch des Blues! Irgendwo in einer Seitenstraße, mit fasernden Tapeten und Plastiktischdecken, und das Bier kostet auch nur zwei Dollar. Wild Bill ist ganz friedlich und mindestens Mitte 70, er sitzt regungslos am Tresen und schaut mit großen, erstaunten Augen zu seinen Gästen hinüber. Die trinken Whiskey und rauchen Zigaretten und sind alle sehr lustig. Aus der Jukebox donnert die Räuberpistole von Robert Johnson und seinem Deal mit dem Leibhaftigen. "Ein ordentlicher Whiskey in einer ordentlichen Bar wirkt besser als fünfzehn Ave Marias", hat B.B. King mal gesagt. Da mag er wohl Recht haben.
NASHVILLE, TENNESSEE
Soundtrack des Tages: "Nashville Cats" (Lovin' Spoonful)
In Nashville haben sie eine neue Country Hall of Fame bekommen, die sich wie eine notgelandete Raumstation in die Skyline quetscht. Auch sonst wird viel gebaut, anscheinend geht es der Heimatstadt der Countrymusic auch in Zeiten der illegalen Downloads gut, da soll die Musikindustrie mal nicht so jammern. Nashville ist ja eine Stadt mit großem Namen, von hier kommt dieser ganze blank polierte Charts-Country, Shania Twain und Garth Brooks und Faith Hill, und deshalb wiederum kommen alle anderen hierher. Auf der Suche nach Ruhm und Geld oder wenigstens einem Plattenvertrag. Der typische Nashville-Satz ist dann auch einer wie: "Ich jobbe hier nur nebenbei, eigentlich bin ich Songwriter." Wir überlegen uns, ob wir uns auch als verkannte Countrymusiker ausgeben sollen. Aber möglicherweise fliegen wir dann auf.
Im Süden haben Engelsstimmen Doppelnamen
Abends gehen wir ins "Stage". Das ist eine Bar direkt am Broadway, und der Broadway ist das Gegenstück der Beale Street in Memphis, aber wir gehen trotzdem rein: Weil die Band eine Sängerin hat. Sie spielt auch Gitarre, aber nicht ganz so doll, jedenfalls muss sie sich von den anderen Musikern immer die richtigen Akkorde zurufen lassen. Dafür sieht sie ziemlich gut aus, so mit langen blonden Haaren und Julia Roberts-Nase und ganz engen Jeans. Mary Sue England heißt sie, so einen Namen muss man auch erst einmal haben (warum heißen in den Südstaaten alle Frauen doppelt, Mary Sue und Frankie Jean und Mary Ann?) Aber singen kann Mary Sue, das will ich wohl meinen! Da läuft es einem kalt den Rücken runter, wenn sie "Coalminer's Daughter" singt. Und alle anderen im Pub singen mit, auch ein steinaltes Pärchen an einem Tisch ganz vorne. Am Ende küsst der Mann die Frau sanft auf die Wange, er zittert ein bisschen, und man sieht, dass er ganz feuchte Augen hat. Und wegen dieses einen, kleinen Momentes: Schon deswegen war die Spurensuche hier unten erfolgreich.