Als hätte er am Horizont das Leuchten bereits erspäht, prescht Dan Steinbakk mit seinem Bulli durch die tiefschwarze Nacht. Die Spikes der Reifen fräsen sich in die vereiste Straße, im Licht der Scheinwerfer türmt sich rechts und links von uns meterhoch der Schnee. Ich sitze im hinteren Teil des Kleinbusses, neben Kamerastativen, Holzscheiten und drei weiteren Passagieren: Susan aus Leeds, außerdem Hakan und seine Tochter Diren aus Ankara. Am Rand der Fenster blühen Eisblumen. Ich starre gespannt gen Himmel, der von einem milchigen Schleier verdeckt wird, und durch meinen Kopf rauscht im Takt des Motorbrummens immer wieder dieselbe Frage: Werde ich heute Nacht das Polarlicht sehen?
Dan Steinbakk, Mitte 30, ist ein Nordlicht-Jäger. Vor ein paar Jahren hat er seine Karriere als Türsteher an den Nagel gehängt und alles über Aurora borealis, so der wissenschaftliche Name des großen Flimmerns, gelernt. Nacht für Nacht fährt er nun Touristen hinaus in die Dunkelheit. So wie an diesem Abend im Februar. Vor rund einer Stunde sind wir in Tromsø aufgebrochen, der größten Stadt im Norden Norwegens, 350 Kilometer nördlich des Polarkreises.
Die Region gilt als eine der besten, um die Aurora borealis zu beobachten – mitten in der Polarlichtzone, einer ringförmigen Region, die sich über Island, Nordnorwegen, Sibirien, Nordalaska, Kanada und Grönland zieht. In der Ionosphäre, 100 bis 500 Kilometer oberhalb des Planeten, prallen hier energiegeladene Teilchen der Sonne auf das Magnetfeld der Erde und entfachen ein buntes Flackern – das man aber nur sieht, wenn der Himmel klar und dunkel ist. In Tromsø zeigt sich das Polarlicht in durchschnittlich 100 Nächten von September bis März. Mit Sicherheit vorhersagen lässt sich das Naturphänomen nicht. Es lässt sich nur erahnen.
Eine gute Wetter-App hilft das Polarlicht zu sehen
Dan gibt weiter Gas und checkt immer wieder sein Handy, das in einer Halterung an der Windschutzscheibe steckt – zuerst die App fürs Wetter, dann die für die Sonnenaktivität. Er stöhnt. Wir müssen noch weiter gen Süden fahren, dort soll sich der Wolkenschleier verzogen haben.
»Ich habe mir das irgendwie einfacher vorgestellt mit den Nordlichtern«, sage ich. Dan lacht, und Hakan versucht mich zu beruhigen: »Du wirst sehen, die Mühen lohnen sich. Ich habe sie letztes Jahr gesehen.« In Grün und gar in Rot hätten sie gefunkelt, fast zwei Stunden lang. Auf Hakans Kameradisplay sehe ich die Beweise, in satten Farben. Meine Aufregung steigt. Die Wolken sollen endlich verschwinden!
Brrrrr! Eisige minus 15 Grad Celsius
Eine halbe Stunde später parkt Dan den Wagen abrupt in einer Haltebucht am Straßenrand. Wir klettern ins Freie. Eisige minus 15 Grad Celsius. Dürre Tannen und dicke Schneefelder sind vom Licht des Vollmonds geflutet, doch Sterne sind kaum zu sehen.
Dan holt die Holzscheite aus dem Wagen, stapelt sie am Straßenrand und entfacht Aurora borealis nimmt viele Gestalten an. Hier spiegelt sie sich als giftgrüne Schnecke im See ein kleines Lagerfeuer. Hakan positioniert derweil sein Stativ. Ich mache es ihm nach, er hat ja schließlich Erfahrung. Eine Stunde vergeht. Wir stapfen durch den Schnee, essen Gemüsesuppe aus der Thermoskanne und warten und warten und warten.
Ich überlege, ob ich verrückt werden würde, wenn ich jede Nacht in Eiseskälte auf ein Naturwunder warten müsste, das so unberechenbar ist wie Sonnenschein im Hamburger Sommer.
Noch während ich grüble, stellt sich Dan auf die Straße, schreit in die stille Nacht: »Komm schon, Baby, zeig uns, wie schön du bist!«
Keine Antwort. Baby ziert sich. Die Kälte hat sich längst ihren Weg durch meine Klamotten- schichten aus Thermounterwäsche, Strick und Wintersportbekleidung gefressen. Ob ich am Ende zu den wenigen Gästen gehören werde, die ohne eine Polarlichtsichtung nach Hause zurückkehren? Dan lässt sich nicht beirren. »Die Bedingungen stimmen: dunkler, klarer Himmel und ausreichend Sonnenaktivität. Die Diva muss nur noch ihre Bühne betreten«, sagt er und wischt sich die Eiskristalle aus dem Bart. »Wir warten, und wenn es bis zum Morgengrauen dauert.«
Und dann, dort, wo die Strasse im tiefen Schwarz der Nacht verschwindet, formt sich kaum merklich eine Schleierwolke. Sie bewegt sich erst langsam, dann schneller und ändert stetig ihre Form. Dan geht zu meiner Kamera, stellt die Langzeitbelichtung ein und drückt auf den Auslöser. Die Kamera bannt das Leuchten besser als das menschliche Auge. »Schimmert die Wolke auf dem Bild grün, dann geht es gleich los.«
Ein feiner grüner Schleier durchzieht die Aufnahme. Mein erstes Nordlicht!
Die Kamera nimmt auf, wieder warten, dann erscheint das Foto: Ein feiner grüner Schleier durchzieht die Aufnahme. Mein erstes Nordlicht! Plötzlich ruft Susan: »Here it is!« Ich drehe mich um: Da ist es! Hinter meinem Rücken hat das Polarlicht die Bühne betreten. Es tanzt, es wabert, es verändert blitzschnell seine Form. Wie Silvesterraketen taucht es immer wieder unerwartet und wie ein Formwandler auf, eine riesige Amöbe aus Licht.
Polarlicht und zwar überall
Egal in welche Richtung ich mich nun drehe, der Himmel ist von einem hellen Grün erleuchtet, durchzogen von lilafarbenen Fäden und einem roten Schimmer. Ich mache kaum Fotos. Ich will diesen Moment nicht durch den Sucher sehen. Ich will ihn fühlen, diese Mischung aus purem Glück und der plötzlichen Angst vor der Leere, die auf die Nordlichter folgen wird – so etwas habe ich noch nie zuvor gespürt. Ich bekomme nicht genug, weiß nicht, welcher Auftritt mir gerade am besten gefällt. Die Bänder, die aussehen, als hätten Flugzeuge sie an den Himmel gemalt? Die glühenden Schlieren oberhalb der Tannen, die wie Flammen tanzen? Oder die Spirale, die sich wie das Blatt einer Kreissäge auf den Vollmond zubewegt?
Ich blicke zu Dan: Im Kegel seiner Kopflampe sehe ich ein breites Grinsen. Baby, let it shine. Ich habe kein Zeitgefühl mehr, dauert das Glühen 20 Minuten oder zwei Stunden? Doch allmählich wird das Leuchten blasser. Schließlich verschwindet es ganz. Der Vollmond steht wieder allein auf der Bühne.
»Wow«, haucht Susan. Dan klatscht in die Hände: »Das war einfach der Hammer. Wahnsinn!« Wir warten noch ein wenig auf eine Zugabe, auf die Rückkehr der kosmischen Diva. Vergebens. Und als wir wieder den Stadtlichtern von Tromsø entgegenfahren, frage ich mich, ob ich die überirdische Schönheit der Aurora tatsächlich gesehen habe. Ein Blick auf mein Kameradisplay genügt als Antwort.
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