Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien Anfang Juni im gedruckten stern. Ronaldos Traumauftakt zur WM am Freitagabend wird daher nicht erwähnt.
Man muss nicht groß darüber reden, dass Cristiano Ronaldo ein brillanter Fußballer ist. Technisch perfekt, instinktsicher, kampfstark. Vielleicht hat er recht, und er ist wirklich der beste Spieler aller Zeiten und der Welt, ein gottgegebenes Talent. Es ist schwer, etwas dagegen zu sagen – außer mit Argumenten, die aus dem Geschmäcklerischen kommen. Und bei vielen TV-Kommentatoren wie auch bei den Experten auf den Sofas kommt die Kritik ja meist eher aus dem Gefühl als aus dem Kopf. Woran liegt das?
Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, 33, der Mann mit den Mehrkarätern im Ohr, der aus sich die Weltmarke CR7 machte, vier Kinder zeugte, ein Millionenimperium schuf und eine ausufernde Großfamilie nebst Managern und Beratern versorgt, der in Steuerschwierigkeiten geriet, die er sich selbst nicht erklären kann, für den TV-Sender bei großen Spielen eine eigene Kamera abstellen, um bloß keinen seiner Freistöße, Übersteiger und Kopfballtreffer zu verpassen, dieser Cristiano Ronaldo hat soeben – ohne selbst im Finale ein Tor zu schießen – die Champions League gewonnen. Das Turnier der Turniere. Zum fünften Mal! Das ist die Faktenlage. Der Rest ist Psychologie.

Bewunderung seiner Fans ohne Demut
Marcel Reif, 68, der frühere Spiele-Interpret, sagt dazu, Ronaldo führe auf und hinter dem Platz "ein Testosteron- und Alphamännchentum vor, wie Männer es nun einmal ungern mögen". Real Madrids Nummer sieben sei keiner, den man "wie Lionel Messi, den ewigen Kontrahenten des FC Barcelona, in den Arm nehmen wolle nach einem Spiel". Nicht nach einem verlorenen und erst recht nicht nach einem gewonnenen. Ronaldos Niederlagetränen sind Anklage, nicht Schmerz. Die Bewunderung seiner Fans nimmt er ohne Demut hin.

Nur im April, als ihn in Turin sogar die am Ende unterlegenen Juventus-Anhänger nach seinem Fallrückzieher aus sagenhaften 2,30 Meter Höhe feierten, sagte er: "Grazie, Italia." Aber sonst? Wenn er nach einem seiner spielentscheidenden Tore in letzter Minute mit angespanntem nacktem Dreiecks-Body und dem Gesichtsausdruck eines Conquistadors posiere, dann, so deutet Marcel Reif, signalisiere er allen Zujublern: "Danke, Leute, ihr bewundert genau den Richtigen!" So weit der Kommentar.
Im CL-Finale hat dann aber Gareth Bale ein Fallrückziehertor à la Ronaldo serviert. Der, nicht er! Die Freude der Mannschaft über das 3 : 1 führte bei CR7 vor laufender Kamera zum Gefühl des Ausgegrenztseins. Schnell raunte er sich deshalb mit kryptischen Bemerkungen vom Spielfeldrand zurück in den Mittelpunkt. Geh ich, oder bleib ich? Ja, rätselt nur. So hat er der Mannschaft das Strahlen des Siegs überschattet. Warum?
Man muss ein bisschen rumgurken, bis man den "Clube de Futebol Andorinha" auf Madeira findet. Oberhalb des Erstligaklubs Marítimo Funchal liegt er rechts am Berg, im Gewerbegebiet. Am Vereinstor hängen noch Kinderfotos des heutigen Weltstars, Zeitungsausrisse. Wütender Blick, wütende Locken, Regionalspieler der Saison 94/95, Lizenznummer 17.182. Damals war hier noch Ascheplatz, kein räudiger Kunstrasen. Am vergangenen Pfingstsonntag spielte darauf die Jugendmannschaft des CF Andorinha in Blau gegen die Gelben von Pontassolense.

Nummer 7 ist der Kleinste, aber der, den sie alle anfeuern, Claudio hier, Claudio da, los, zu mir! So muss es gewesen sein, als Ronaldo von Madeira aus mit elf, fast zwölf Jahren ins Internat von Sporting Lissabon kinderlandverschickt wurde. Er hat geheult, der Vater hat geheult, die Mutter hat geheult. Das gelbe Haus mit dem Wellblechdach an der Travessa Da Quinta Falcão mag zwar ärmlich gewesen sein, aber man sah von hier aus aufs Meer. Man sah die Jacarandabäume unten in Funchal blauviolett leuchten, die Blütenmeere der Bougainvillea, die Wolfsmilch an den Hängen. Nicht nur Winston Churchill fand, dass Madeira die glücklichste unter den makaronesischen Inseln sei. Es muss schlimm gewesen sein, hier wegzumüssen. Vielleicht ist Ronaldos Mantra "Siegen ist für mich das Wichtigste – so einfach ist das" in jener Zeit geboren worden, als er sich auf dem Festland Mut zusprach. Heute ist das kleine gelbe Haus im Stadtteil Santo António verlassen. Fenster und Türen sind zugemauert. Es wohnen jetzt auch Studenten hier. Manche haben ausrangierte Toilettenschüsseln mit Natternkopf und Strelitzien bepflanzt.

Christiano Ronaldos Ebenbild und Nachfolger
Als Ronaldo 19 war und bei Manchester United Furore machte, lag in London sein Vater im Sterben. Er hatte die Eltern mit nach England genommen. Einer musste ihm schließlich die geliebten Napfschnecken so sautieren, wie er sie aus Madeira kannte. "Ich hätte gern einen anderen Vater gehabt", bekannte der Sohn später. Er kannte ihn nur betrunken, nicht als Vorbild. Ronaldos Mutter glaubt, das Trinken, die spätere Leberzirrhose seien Folgen des Angola-Kriegs. Als ganz junger Mann habe José Diniz Aveiro dort mit der portugiesischen Armee Schlimmes erlebt. Mag sein.

Sein Jüngster jedenfalls wollte ein anderer Vater werden. Ein besserer Vater, ein Held. Schon mit 25 lässt er eine Leihmutter seinen ersten Jungen austragen. "Ich hatte den Traum, einen Sohn zu haben, der mein Nachfolger wird", sagt der 25-jährige Vater und zieht ihn ohne dessen Mutter groß. Ronaldo glaubt, ein guter Vater reicht! Der Junior trainiert nun bereits Sit-ups wie Papa. Er ist mit sieben Jahren bereits ein Miniaturebenbild dessen, der ihn mit dem Rolls-Royce in die Schule bringt und mit dem Porsche abholt, wenn der Lamborghini wegen eines platten Reifens in der Werkstatt steht. Zu Hause schauen sie dann Fußballspiele im TV, kicken, malen, trinken Energy-Mixgetränke. Abends putzt Ronaldo seinem Sohn die Zähne, bevor er ihn zu Bett bringt. Süß. Aber irgendetwas ist trotzdem schiefgelaufen. In einem Kinofilm über den Fußballspieler sagt der Kleine einmal: "Papa, ich werde Torwart, okay?" Und Papa sagt ernsthaft empört: "Ist das ein Witz? Nein, das will ich nicht." Da antwortet der Kleine: "Aber ich!"

Torwart! Für einen, der aus dem Pirouettensprung Tore zaubert, der im Blindflug Bälle versenkt, rückwärts und im Liegen, der in der Gangart eines Gorillamännchens vom Ball zurücktritt, bevor er ihn mit Kawumm ins Netz feuert, ist Torwart natürlich kein Königsjob. "Ich will wie ein König leben, dafür arbeite ich", heißt ein Satz aus seinem verstörend ehrlichen Repertoire. Der andere Kindersatz lautet: "Ich bin dazu gemacht, der Beste zu sein." Es ist ja oft so, dass ein Zuviel an Ruhm dazu führt, dass sich der Gerühmte auf Gott beruft. Auch Muhammad Ali fand, Gott habe Großes mit ihm vor.

"Er war ein Kind, das ich abtreiben wollte", gesteht Maria Dolores Aveiro in jenem Ronaldo-Film. Sie hatte schon zwei Töchter und einen Sohn, sie hatte einen Mann, der täglich betrunken war, sie wusste nicht, wie sie mit dem Geld hinkommen sollte. "Manchmal sagt Cristiano heute: 'Du wolltest mich nicht haben, aber jetzt siehst du, dass ich euch allen helfe.' Und dann lachen wir darüber." Lachen? Was gibt es da zu lachen? Noch heute, wenn der 33-Jährige nach einem Tor in den Rang blickt, in dem seine Familie sitzt, scheint er wie ein Baby den Glanz in den Augen der Mutter zu suchen. Der Frau, die ihn nicht haben wollte.
Fanpost im Museum
Ja, er hilft allen. Hugo, dem älteren Bruder, der drogensüchtig und alkoholkrank war wie der Vater, hat er sein Museum anvertraut. Es liegt unter dem CR7-Hotel an der Promenade Funchals. Seine Ballons d'Or sind in den Räumen ausgestellt, goldene Fußballschuhe, Trikots, Bälle, Auszeichnungen in Porzellan und Gold, und ein seltsames Ding, das aussieht wie ein Goldpenis mit Testikeln, steht auch in der Vitrine. Bleistiftporträts, von kleinen Mädchen gemalt, Fanpost aus Polen, Reliefporträts aus Streichhölzern gebastelt. Es vergeht keine Minute am Tag, in der sich nicht ein Tourist neben der Bronzestatue vorm Haus in typischer CR7-Freistoß-Pose aufbaut, um ein Foto schießen zu lassen.

Weiter westlich beim Einkaufszentrum Forum Madeira betreibt Ronaldos Schwester Elma eine Boutique mit dem einprägsamen Namen CR7. Hier gibt es seine Unterwäschekollektion, sein Parfüm, seine Trikots, aber auch Mädchenkram. Ketten, Kleider, Rosenkränze. Die andere Schwester, Liliana Kátia Santos Aveiro Pereira, scheint Ronaldos Liebling zu sein. Als Schlagersängerin nannte sie sich Ronalda. Und als nach drei Alben und dem Versuch, zum Eurovision Song Contest vorausgewählt zu werden, ihre Karriere immer noch nicht recht aus der Hüfte kam, gab sie das öffentliche Singen dran. Anfang Mai eröffnete sie mit ihrer Mutter ein Sandwichrestaurant im zweiten Untergeschoss des Marina-Shoppingcenters. Es heißt "Cascatas e Girassóis". Dass es besser laufe als ihre Schlagerkarriere, kann man nicht sagen. "Wasserfälle und Sonnenblumen" – warum haben sie es nicht nach ihrem Helfer benannt?

Inzwischen hat Ronaldo drei Kinder von Leihmüttern. Im Sommer 2017 kamen nach Ronaldo junior irgendwo auf der Welt die Zwillinge Mateo Ronaldo und Eva Maria ans Licht. Im November dann noch Alana Martina, die Tochter, die er mit seiner Freundin Georgina Rodríguez hat, einer ehemaligen Gucci-Verkäuferin aus Madrid. Sie ist 24 und liebt ihn angeblich. Sagt sie jedenfalls bei Instagram. Drei Kinder in fünf Monaten von zwei Frauen – das kriegt auch nicht jeder Vereinsspieler hin. Er wolle einmal sieben Kinder haben, sagte er. Sieben sei seine Glückszahl.
Kindlich, göttlich, ohne Posen
Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, heißt es bei Friedrich Schiller. Aber was heißt das für unsere portugiesische Fußball-Primadonna? Es ist wohl so: Ronaldo ist da ganz Mensch, wo er mit dem Ball spielt, wie er mit seinen Kindern spielt. Kindlich, göttlich, ohne Posen, ohne Testosteron und Ego-Erotik. Wenn er alles, was je in ihm gewütet hat und immer noch wütet, vergisst. Wenn ihm allein sein Ballgefühl sagt, was richtig ist.
An jenem Pfingstsonntag auf Madeira übrigens, ob man's glaubt oder nicht, schoss die Nummer 7 das 1 : 0 für Andorinha. Und der Jubel klang über den Berg, über die blauen Jacarandabäume im Tal und über alle Natternköpfe dieser Welt hinweg.