Es spielen sich da in ihrem Land Szenen ab, die Natalie nicht erwartet hätte. In Brasilien sicher, vielleicht auch in Italien oder Deutschland. Aber in Russland?
Auf dem Roten Platz, wo sonst Versammlungen aller Art verboten sind, läuft gerade so etwas wie ein Karneval der Nationen. In Flaggen gewickelte Russen posieren wodkaselig mit den allgegenwärtigen Peruanern und Fans aus 30 anderen Nationen. Im Sarjadje-Park ein Stück weiter üben Hunderte Isländer ihren Huh-Schrei, eine unangemeldete Zusammenkunft, für die Russen sonst im Gefängnis landen können. Und auf dem Fifa-Fan-Fest an der Uni, wo einheimische Studenten vor einem Monat wegen einer kleinen Demo verhaftet wurden, demonstrieren Zehntausende ihre gute Fußballlaune.
Ansteckende Euphorie
Und sie mittendrin: Natalie, 19 Jahre, Management-Studentin. Die nichts für Fußball übrig hatte. Die ihren Alltag bisher mit einer gewissen Indifferenz lebte, ob es nun um Politik ging, um Putin oder um Sport.

Jetzt ist Natalie jeden Tag unterwegs, als könne sie nicht genug von dieser WM bekommen. Aber es ist nicht so sehr der Fußball, der sie antreibt. Es ist das andere, das Neue, das leicht Anarchische. Ein gewisser Wind of Change in Moskau.
"Ich spreche fünf Sprachen", sagt Natalie. "Ich habe sie gelernt, um rauszukommen aus diesem Land. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Wir Russen sind wie verwandelt, selbst meine Großeltern. Die Euphorie der WM ist ansteckend."
Sie sieht in diesen Tagen ein verändertes, weltoffenes Land. Aber sie hat große Fragen: Warum gelten all die Freiheiten für andere und nicht für uns Russen? Und: Wie lange hält das an?
Der Fußball wird Russland erobern, hatten die Fifa und Wladimir Putin vollmundig angekündigt. Die Skepsis war groß. Russland, ein Land ohne große Fußballtradition, hatte noch vor wenigen Jahren weder die Infrastruktur noch die Stadien für das größte Sportereignis der Welt. Doch die Verantwortlichen haben recht behalten. Die WM ist mal wieder die größte Party der Welt. Der meistgehörte Satz dieser Tage lautet: Wer konnte ahnen, dass Russland so viel Spaß macht?

Das russische Nationalteam hatte in der Vorbereitung miserabel gespielt, und der oft grummelnde Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow sagte fatalistisch: "Ich glaube, die Hälfte des Landes wird erst herausfinden, dass wir die WM haben, wenn der Anpfiff ertönt." Aber er sagte auch: "Es dauert eine Zeit, bis wir in Fahrt kommen. Aber einmal in Fahrt, hält uns nichts mehr auf."
Genau das ist passiert. Die Russen sind ins Achtelfinale eingezogen. In den U-Bahnen hört man spontane Anfeuerungsrufe: Ros-si-ja! Russland. Kinder gehen in Flaggen gehüllt zur Schule. Und das russische Staatsfernsehen zeigt Abend für Abend, wie toll die Welt Russland findet.
"Lust auf mehr"
Unter den Gästen sind es vor allem die Südamerikaner, die für gute Stimmung sorgen. Die Brasilianer haben überall Heimspiele, weil sich die Hälfte der Russen in gelbe Trikots wirft. Die Mexikaner verwandelten das Luschniki-Stadion kurzerhand in das Aztekenstadion von Mexico City.
Welche große Wucht WM-Spiele gerade bei denen entfalten können, die das besondere Flair zum ersten Mal erleben, ist auch im deutschen Lager zu spüren. Der Nationalspieler Timo Werner etwa sagt: "Die Stimmung ist wirklich etwas Außergewöhnliches. Ich habe noch nie so etwas erlebt, deshalb war das wirklich ein super Gefühl." Es habe "Lust auf mehr" gemacht.
Abraham Bayona hat sein Leben lang auf die WM gespart. Er und seine Tochter Denisse, 37, sind aus dem Norden Perus über Spanien und Weißrussland angereist. Jahr für Jahr hat der Busfahrer etwas zurückgelegt für den Fall, dass sich Peru zu seinen Lebzeiten noch mal für eine WM-Endrunde qualifizieren würde. Jetzt ist er 66. Er hat zusätzlich eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, und seine Tochter, eine Krankenschwester, hat ihre Ersparnisse gespendet, um den Lebenstraum ihres Vaters zu verwirklichen. Bis jetzt hatte Bayona sein Land nie verlassen.

"Die WM kostet uns 20.000 Dollar", rechnet er. Und er bekam noch nicht mal Tickets für alle Partien Perus. Er hatte überlegt, wie sein Freund 25 Kilo zuzunehmen, um einen Platz für Übergewichtige zu ergattern, weil alle normalen Tickets ausverkauft waren. 20.000 Dollar für ein Ausscheiden Perus bereits nach der Vorrunde? "Ich mache Geschichte", erwidert Bayona. "Für mich." Er spricht von seiner WM-Teilnahme wie von einem letzten Wunsch. Hier sei er umgeben von "Brüdern". Sie feiern den Fußball, aber mindestens genauso feiern sie, dass sie dabei sind.
Vater und Tochter stehen auf dem Roten Platz in einer Traube rot gekleideter Peruaner. Sie machen ein Foto nach dem anderen mit Russen, Japanern, Tunesiern. Peruaner zeigen sich als Inkakrieger. Mexikaner mit Sombreros. Japaner als große Anime-Figuren. Auf den ersten Blick eine Ansammlung nationaler Klischees. Auf den zweiten Blick die große Völkerverständigung, wirkungsvoller als manche Friedenskonferenz.
Verhaftungen
Und die expansive Politik Russlands? Die Menschenrechtsverstöße? Die Manipulation von Wahlen?
Bayona versteht die Frage nicht. Er will jetzt nicht über Politik nachdenken. Er findet: Die Sicherheit ist erstklassig, die Städte sind sauber. Die Flughäfen modern. Die Straßenhunde verschwunden. Russland sei ein toller Gastgeber. 2,5 Millionen Gäste können nicht irren.
So geht es überall. Fragen nach Politik und Menschenrechten nerven viele Fans. Man solle auch mal Spaß haben im Leben, ist die Reaktion. So schlecht könne Putin nicht sein, wenn er ein so perfektes Event hinkriege.

Die WM ist schon jetzt ein großer Propagandaerfolg für den russischen Präsidenten. Die Politiker aus Europa mögen zwar fernbleiben, doch die Bilder russischer Lebensfreude gehen um die Welt. Die Begeisterung und Hilfsbereitschaft der als kühl verschrienen Russen ist allgegenwärtig. Keiner spricht mehr von der dubiosen WM-Vergabe durch die korrupte Fifa vor fast acht Jahren oder vom Staatsdoping oder gar vom Einmarsch in der Ukraine.
Nach wie vor greift der Staat hart durch: Als Studenten gegen das Fifa-Fan-Fest protestierten, weil es 40 Millionen Dollar an Staatsgeldern kosten sollte und weil dafür ein Teil eines Parks zerstört wurde, kam es zu Verhaftungen. Wer in den sozialen Netzwerken die Annexion auf der Krim kritisiert, kann vor Gericht gestellt werden. Der Oppositionspolitiker Sergej Mitrochin ist vergangene Woche verhaftet worden, weil er gegen die zu WM-Beginn hastig durchgezogene Erhöhung des Renteneintrittsalters protestiert hatte.
"Umarme deinen Rivalen"
Die Fans aber bekommen davon nichts mit. Die Fifa äußert sich dazu nicht. Der DFB nicht. Auch das ist ein Erfolg für Putin.
In den anderen Spielorten fühlt sich die WM fremder an, etwa in Rostow am Don. Die Stadt liegt 1000 Kilometer südlich von Moskau. Auf dem Weg nach Rostow in einem mit männlichen Fans besetzten Flugzeug gibt es Jubel und anzügliche Bemerkungen, als die Stewardess über den Gang geht. Da wirkt die WM noch wie eine vierwöchige Vatertagstour oder wie ein Junggesellenabschied.
In Rostow, zwischen endlosen Plattenbauten, kann man die vorsichtige Annäherung zweier Welten beobachten. Schweizer und brasilianische Fans umarmen sich und spielen zusammen Fußball. Die Russen schauen ihnen interessiert zu, als wollten sie sagen: Das also kann der Fußball. Verbrüderung unter Nationen.

Bürger, die sonst nicht viel unterwegs sind, bekommen gleich vor der Haustür Interessantes zu sehen: Iranerinnen, die in ihrer Heimat nicht zu den Spielen ins Stadion dürfen, sind hier ganz selbstverständlich dabei, einige sogar ohne Kopftuch. Japaner räumen mit Plastiktüten in der Hand die Stadien auf, und Kolumbianer und Senegalesen folgen ihrem Vorbild.
In Sankt Petersburg ziehen Hunderttausende aufs Fan-Fest, das eigentliche Zentrum der WM-Feiern. Die Straßen entlang der Kanäle sind so voll wie in Venedig. In einer Fotokabine mit dem Namen "Umarme deinen Rivalen" können Fans die Verbrüderung fotografisch festhalten. Am Morgen schlafen sie auf den Bürgersteigen gemeinsam ihren Rausch aus und rauchen einen Joint. Selbst die Drogengesetze hat Russland für die Zeit der WM kurzerhand gelockert. Russen wie Natalie fragen sich: Warum ist das auf einmal alles erlaubt?
Russlands kurzes Sommermärchen
Es gibt unschöne Vorfälle, aber sie bilden die Ausnahme. Die befürchteten Ausschreitungen der ultranationalen russischen Hooligans sind bisher ausgeblieben. Zwei Engländer zeigten den Hitlergruß im ehemaligen Stalingrad, wurden aber schnell gefasst. Brasilianer, die sich der sexuellen Belästigung schuldig machten, wurden nach Hause geschickt.
In diesem Sinn fungiert die WM nicht nur als Fest der Nationen, sondern als Korrektiv, das manchen Russen zum Nachdenken bringen könnte: Der Verband Mexikos wird bestraft, weil die Fans homophobe Fangesänge gegen Manuel Neuer richten. Gegen Serbien läuft ein Verfahren, weil nationalistische Fans im Stadion dem Schlächter des Bosnienkriegs, General Mladic, huldigten. Die Werte der Welt – Toleranz, Offenheit, Vielfalt, Gewaltfreiheit – widersprechen denen der russischen Regierung.

Dabei ist die WM in Russland mehr denn je eine Veranstaltung polyglotter Migranten. 65 Prozent der Spieler verdienen ihr Geld im Ausland. 82 der 736 Spieler wurden außerhalb ihres Landes geboren, bei den Mannschaften Marokkos und der Schweiz sind es sogar mehr als ein Drittel. Die Nationaltrainer kommen aus allerlei Ländern. Und der Stil ist schon lang nicht mehr landestypisch, es gibt keine teutonischen Maschinen mehr, keinen brasilianischen jogo bonito, keinen britischen kick and rush.
Wird die WM Russland verändern? Oder ist Russlands Sommermärchen aus Offenheit und Pluralismus eben nur ein Märchen, das sich nicht fortführen lässt?
Kurze Sommerliebe
Die Filmemacherin Julija Melamed sagt: "Diese Erfahrung aus Spaß und Einheit, dieses Gefühl, Teil Europas zu sein, geht nicht einfach weg. Es wird bleiben und Veränderungen bewirken, vielleicht sogar revolutionäre Veränderungen."
Natalie überlegt eine Weile. "Schön wär's", sagt sie, "aber ich befürchte: Es ist eine kurze Sommerliebe." Mit nostalgischer Sehnsucht – stets ein Teil der russischen Seele – werde sie später mal zurückblicken auf den kurzen Sommer 2018, so glaubt sie. Sie sagt es auf Englisch, und es klingt wie ein Songtitel: "Back in the summer of 2018."