WINTERSPORT Lass Dich nicht So Hängen, Mensch!

Hans Kammerlander hat 13 von 14 Achttausendern bestiegen. Daheim in Südtirol gibt er Kletterkurse an gefrorenen Wasserfällen - und lehrt Angsthasen, sich selbst zu vertrauen.

Auf einmal ist es da. Erst war es nur ein Kribbeln. Kaum zu spüren, noch weniger zu greifen. Aber jetzt umso deutlicher. Es bitzelt in meinen Armen. Meine Muskeln krampfen sich zusammen, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Mein Herz pocht bis in die Schläfen.

Irgendetwas drückt bleiern auf meinen Brustkorb, schnürt die Kehle zu. Ich schnappe nach Luft. Tränen steigen mir in die Augen. Pure, kalte, lähmende Angst.

Das Nichts unter den Füßen

Keine Chance zur Flucht. Rechts und links schroffe Felswände, ein paar Meter weiter plätschert ein kleiner Wasserfall. Direkt unter meinen Füßen zehn Meter Nichts. Dann eine blau glitzernde Platte, hart zusammengepresst aus Eis und festgetretenem Schnee.

Schwer hänge ich an einem Seil, der Klettergurt schneidet sich schmerzhaft in die Oberschenkel. »Du musst mit dem linken Arm versuchen, über deinen Kopf zu kommen«, ruft Hans Kammerlander von unten.

Grundkurs Eisklettern

Und reißt mich damit aus meiner Lähmung. Arm über den Kopf. Na gut. Aber seine Stimme beruhigt. Und vertreibt ein wenig die Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, mit einem der besten Bergsteiger und Extremskifahrer auf Tour zu gehen, einen »Grundkurs Eisfallklettern« zu nehmen bei seiner Alpinschule Südtirol.

Höhenangst ade

Am Abend vor der ersten gemeinsamen Klettertour begrüßte Kammerlander die Kursteilnehmer im rustikalen Besprechungszimmer seiner Bergschule. Fester Händedruck, sanfte Stimme. »Hallo, ich bin der Hans.«

Von grauen Strähnen durchsetzte Strubbelmähne, dichter Bart, drahtige, fast schmächtige Figur, grob gestrickte Socken und braune Sandalen - so sieht er aus. Der Mann, der als erster Mensch den Mount Everest abschnittsweise auf Skiern heruntergefahren ist, auf 13 von 14 Achttausendern war und mir beibringen will, einen vereisten Wasserfall hinaufzusteigen. Für ihn ein Job, für mich Therapie gegen Höhenangst, an der ich seit langem leide.

Mühsames Vorarbeiten

Seit fünf Minuten hänge ich an derselben Stelle fest. Zappelnd versuche ich, mit der linken Hand einen Eispickel in die Wand zu rammen. Statt Halt zu finden, rutscht die Klinge immer wieder ab.

Das Eis splittert unter der Wucht der Schläge wie Glas. Kalt tropft mir Wasser ins Gesicht. Nach einer Ewigkeit gräbt sich die Spitze des Eispickels endlich tief ein, und ich kann mich mühsam ein paar Zentimeter nach oben ziehen. Durchatmen. »Du bist eine Löwin«, lobt Kammerlander. Ich spüre so etwas wie Stolz.

Den Wasserfall hinauf

»Schaut mal nach oben«, hat er am Morgen gesagt, als wir uns auf dem Parkplatz vor einer Jausenstation die Steigeisen unter die Schuhe schnallten und den Gurt zum Festbinden des Sicherungsseils über unsere Hosen zogen. »Da wollt ihr rauf.«

In einer zerfurchten, grauen Felswand klebt eine riesige, im Sonnenlicht glitzernde Eiswand. Ein gefrorener Wasserfall, der aussieht, als sei er gerade eben noch tosend in die Tiefe gestürzt.

Eisklettergebiet Ahrntal

Das obere Ahrntal im Nordosten von Südtirol ist die Heimat von Kammerlander. Mehr als 80 Dreitausender gibt es hier. Während der eisigen Wintermonate gefrieren in den verwinkelten Ecken der Berge Hunderte Wasserfälle und lassen die Region so zu einem beliebten Gebiet für Eisfallkletterer werden.

Kammerlander wurde hier vor 44 Jahren als jüngster Sohn einer Bergbauernfamilie geboren und kraxelte als Achtjähriger heimlich auf seinen ersten Gipfel - den 3059 Meter hohen Moosstock.

Einmal pro Jahr alles riskieren

»Seitdem bin ich bergsüchtig«, sagt er. Und erzählt von seinen Touren durch die eisigen Höhen Nepals, Pakistans und Tibets. Er redet leise und scheinbar ungerührt. Angenehm beiläufig. Nur seine Augen kriegen einen sonderbaren, beinahe entrückten Glanz. »Einmal im Jahr riskiere ich alles«, sagt er. »Die restliche Zeit bin ich dann vorsichtig.«

Das ist die Zeit, in der Kammerlander als Chef der Alpinschule Südtirol wirkt, die vor 20 Jahren Reinhold Messner gegründet hat. Er will hier Touristen vermitteln, dass »Grenzerfahrungen am Berg eine andere Welt erschließen können«. Augenblicke, in denen das Glück scheinbar greifbar wird. Augenblicke, die er schon hundertmal erlebt habe, denen er immer wieder nachjagen werde.

Mit der Leichtigkeit von Spiderman

Nur noch einen Meter, dann habe ich es geschafft. Dann bin ich oben. Habe meine Panik bezwungen, die ich am Anfang so gnadenlos spürte, wenn ich nach unten schaute. Der Aufstieg ist jetzt ein Kampf, und ich will gewinnen. Kammerlander ist bei mir. Langsam und fast lautlos hat er sich von unten angeschlichen, klebt an meiner Seite in der Wand und gibt mir Tipps.

Ohne Seil und mit der Leichtigkeit von Spiderman, dem Comic-Helden aus meiner Jugend, bewegt er sich. Lockert nebenbei mit ein paar Witzen die Anspannung. Er scheint genau zu wissen, wie man unentschlossenen Kletterern die Angst nimmt. Mein Vertrauen ist plötzlich grenzenlos.

Am Berg zeigt sich, wie ein Mensch wirklich ist

Ich beginne die Minuten in der Steilheit des gefrorenen Wasserfalls zu genießen. Spüre die Feuchtigkeit des im Sonnenlicht langsam schmelzenden Eises an den Händen. Problemlos schlage ich die Eispickel ein. Klack, klack. Verschaffe mir mit den messerscharfen Steigeisen an den Füßen neuen Halt und arbeite mich so nach oben. Schaue über die Schulter und blinzle in die Sonne.

»Klettern verändert die Menschen«, sagt Kammerlander. »In meinen Kursen waren schon gestandene Manager, die in 20 Meter Höhe hingen, plötzlich Rotz und Wasser heulten und darum bettelten, dass ich sie runterlasse.« Kammerlander lernt die Menschen kennen, wie sie sind. Ohne Maske. »Mir kann keiner was vormachen. Am Berg sehe ich genau, wie die Leute ticken.«

Die Wand besiegt

Das Kribbeln ist wieder da. Diesmal ist es wohlig warm. Ich stehe auf der vereisten, rutschigen Kante des Wasserfalls in etwa 50 Meter Höhe. Meine Arme hängen schlaff an den Seiten herunter, meine Hände umklammern die beiden Eispickel. Warmer Schweiß läuft mir das Gesicht herunter. Keine Tränen mehr. Ich muss grinsen. Geschafft.

Ich drehe mich um und seile mich ab.

von Alexandra Kraft

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