Es waren dramatische und beängstigende Szenen, die sich am Macht der Machtübernahme der Taliban in Kabul abspielten. Als klar wurde, dass die ersten Taliban in die Außenbezirke der afghanischen Hauptstadt eingedrungen waren, kam die Panik. Menschen verrammelten ihre Läden. Rannten zu den Banken, um zumindest einen Teil ihrer Ersparnisse in Sicherheit zu bringen. Und versuchten schließlich in Autos, in Bussen, auf Fahrrädern und Motorrädern, zu Fuß oder auf Eselskarren aus der Stadt rauszukommen. Weg, nur weg von den Taliban.
Weg. Doch wohin?
Während die USA Botschaftspersonal und internationale Helfer in schweren Chinook-Helikoptern zum noch gesicherten internationalen Flughafen ausflogen, von dort dann weiter mit Militärmaschinen ins usbekische Taschkent, gab und gibt es diesen Ausweg für die allermeisten Afghaninnen und Afghanen nicht. In ihrer Verzweiflung versuchten Menschen sogar auf Fahrgestellen von Militärflugzeugen mitzufliegen. Ihr Land wird für sie immer mehr zum Gefängnis – mit den Taliban als Aufsehern.
Bis zum Wochenende war Kabul für flüchtende Afghanen der letzte sichere Hafen. Wie Dominosteine waren die großen Städte des Landes, waren Herat, Kandahar, Mazar-i-Sharif, zuletzt dann auch Jalalabad, in die Hände der Taliban gefallen. Meist ohne Kampf – die afghanischen Soldaten sahen offenbar nicht ein, warum sie ihr Leben für eine Sache geben sollten, die auch der Westen längst aufgegeben hatte.
Kabul war die Rettung – bislang
Mit jedem Geländegewinn der Islamisten versuchten mehr Menschen nach Kabul zu gelangen. Auf Brachen in den Außenbezirken bildeten sich Zeltlager, Männer, Frauen und Kinder schliefen in den Parks oder einfach auf den Straßen der Stadt. Zehntausende dürften allein in den letzten Wochen in die Hauptstadt gekommen sein – dabei war Kabul mit inzwischen vier Millionen Einwohnern ohnehin eine von Flüchtlingen überfüllte Stadt.
Mit der Machtübernahme der Taliban gibt es nun im Land keine sichere Enklave mehr. Zwar verkünden die Islamisten keine Rache üben zu wollen – das glauben aber offenbar die Wenigsten. In schon länger von ihnen übernommenen Städten wie Kunduz drohten sie den Mitarbeitern der Verwaltung: Kommt zurück in die Büros – oder macht euch auf Strafen gefasst. In Kabul selbst herrsche, berichten Journalisten, in manchen Gegenden eine seltsame Ruhe. Eine Art Drôle de guerre. Musik, die Taliban als unislamisch ansehen, sei nirgendwo mehr zu hören. Aber noch gingen Frauen ohne Burka auf der Straße.
Der internationale Flughafen hingegen hat sich zum Katastrophenhotspot entwickelt. In den ersten Tagen war das Rollfeld von Menschen überrannt worden und es spielten sich jene Szenen ab, die später einmal zu den ikonographischen Bildern des Falls von Kabul gehören werden. Menschen, die sich auf die Radkasten von startenden US-C17-Militärmaschinen schwangen, neben den Flugzeugen herliefen. Und Menschen, die als kleine schwarze Punkte von startenden Maschinen herunterfielen.
Inzwischen haben US-Militärs den Flughafen selbst unter Kontrolle – dafür spielen sich die dramatischen Szenen nun an den Mauern und Zäunen ab. Immer wieder werden Menschen zu Tode getrampelt. Babys werden nach oben gehalten, in der Hoffnung, dass sich ein ausländischer Soldat ihrer annehme. Weg. Nur weg von hier.
In den vergangenen Jahren waren Iran und vor allem Pakistan die ersten Ziele ins Ausland flüchtender Afghanen. Allein in Pakistan leben geschätzt fast 1,5 Millionen afghanische Flüchtlinge. Die Stimmung ihnen gegenüber wurde zusehends feindlicher – eine bittere Ironie: Schließlich ist Pakistan einer der Hauptunterstützer der Taliban, viele von deren Anführern haben hier ihre Familien untergebracht.
Die Grenze wird abgeriegelt
Nun hat die Regierung in Islamabad angekündigt, keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Erst vor wenigen Tagen wurde auch ein Zaun entlang der Grenze fertiggestellt.
Immer mehr rückt Iran als Ausweg in den Mittelpunkt. Bislang leben hier etwa 800.000 afghanische Flüchtlinge. Auch ganze Kompanien der afghanischen Armee samt Gerät hatten sich in den vergangenen Tagen hierher geflüchtet. Iran beherbergt seit über 40 Jahren afghanische Vertriebe mit erstaunlicher Offenheit, auch weil die Taliban für die Mullahs in Teheran nicht als Partner sondern als geostrategische Konkurrenten gelten.
Zudem entwickelt sich der Iran zum wichtigen Transitland. 2000 Kilometer sind es von der iranisch-afghanischen Grenze bis in die Türkei; der Weg, den die Flüchtlinge oft zum Großteil zu Fuß zurücklegen, ist eine Tortur. Trotzdem steigt die Anzahl der Flüchtlinge, die türkische Grenzer aufgreifen, beständig an. Zwischen 500 und 2000 sollen es nach Schätzungen nun jeden Tag sein. Zwischen 200.000 und 600.000 afghanische Flüchtlinge leben inzwischen in der Türkei. Doch das Ziel der meisten ist Europa.
"Migrationspolitische Folgen"
Die türkischen Behörden haben nun angekündigt, die Grenzkontrollen verstärken zu wollen. Auch deutsche Politiker geben sich schon besorgt, vor den, wie es SPD-Außenpolitiker Niels Annen formulierte, "migrationspolitischen Folgen". Deutschland sei ein "attraktives Zielland".
Ein Euphemismus, der unterschlägt, was die Menschen zur Flucht drängt. Die Rückkehr eines brutalen Regimes des Steinzeit-Islamismus – und die Weigerung des Westens, diesem länger die Stirn zu bieten.