Bielefeld Wohnen bis zum Lebensende

Von Brigitte Zander
Weil die Genossenschaft "Freie Scholle" in Bielefeld keine Mieter an Altenheime verlieren wollte, entwickelte sie das Betreuungsmodell "lebensgerechtes Wohnen". Die Senioren freut's - und die Konkurrenz drängt zur Besichtigung.

Frühmorgens klingelt das Not-Telefon von Gabi Siegeroth immer am laufenden Band. Eine Bewohnerin der Apfelstraße möchte einen Haltegriff an der Badewanne montiert haben. Ein Hausarzt informiert über eine 85-jährige gestürzte Patientin: "Da muss jemand nachsehen, ob sie alleine zurecht kommt." Und der einsame, gehbehinderte Witwer Fritz Pieper wünscht sich für heute einen motorisierten Begleiter, um "mal wieder das Grab meiner Frau zu besuchen".

Wohnbauunternehmen mit Senioren-Service

"Das macht der Bastian", bestimmt Gabi. Die muntere Sozialhelferin mit der dunklen Pagenfrisur sitzt in der Einsatzzentrale der "Freien Scholle" in Bielefeld vor einem großen Wochenplan an der Wand, und koordiniert den mobilen sozialen Dienst der Baugenossenschaft. In den kleinen weißen Firmenautos schickt sie eine Hilfsarmee aus Zivis, Ein-Euro-Jobbern und Sozialarbeitern zum Trösten, Beraten, Begleiten, Reparieren in die 5000 "Scholle"-Wohnungen quer durch die Stadt. Ein ungewöhnlicher karitativer Service für ein Wohnungsbauunternehmen. Aber vermutlich zukunftsweisend für die Branche.

Die 1911 gegründete Freie Scholle ist ihrer Zeit voraus. Schon Mitte der 80iger Jahre fiel dem Vorstand das steigende Durchschnittsalter ihrer Mieter auf. Daraus wuchs die Erkenntnis: "Die Leute brauchen demnächst nicht nur Wohnraum, sondern vermehrt auch Service." Bielefeld hat, wie viele andere Städte, vor allem im Osten, ein Überangebot an Wohnungen. Weil die Genossenschaft keine Mieter an die Konkurrenz, und auch nicht an Altenheime verlieren wollte, entwickelte sie als erstes bundesdeutsches Wohnungsunternehmen für ihre elf Siedlungen in der Westfalen-Stadt das Betreuungsmodell "lebensgerechtes Wohnen".

Besichtigungsziel für die Konkurrenz

Das erste Pilotprojekt dieser Art, inzwischen mit dem Ersten Preis des Quartier-Wettbewerbs der Bertelsmann Stiftung und des Kuratoriums Deutsche Altershilfe ausgezeichnet, ist längst zum Besichtigungsziel für viele Wohnungsgesellschaften aus dem In- und Ausland geworden. Denn seit die Nachfrage nach Wohnungen sinkt, stellen auch andere städtische und private Siedlungsbauer fest, dass man den Deutschen in Zukunft mehr bieten muss, als Zimmer mit Aussicht.

Damit Mieter so lange wie möglich in der vertrauten Umgebung bleiben können, werden in Bielefeld die Genossenschafts-Häuser laufend umgebaut und an die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Generationen angepasst. "Endziel: Für jedes Lebensalter die passenden vier Wände", sagt Scholle-Sprecher Michael Seibt. Den Kinderspielplatz vor der Tür für junge Familien, und eine barrierefreie Erdgeschosswohnung für Senioren. Jeder Mieter kann in ein passenderes Heim umziehen, wenn sich die Lebensumstände ändern, und - dank umfassender Hilfsangebote - bis ins hohe Alter eigenständig leben. Seibt: "Die Angst vor der 'Endstation Altenheim' schwindet."

Viele Dienstleistungen

Die Genossenschaft und die ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfe e.V. der Bewohner haben im Laufe der Jahre eine stattliche Palette von Dienstleistungen aufgebaut: von der kostenlosen Altenberatung mit Hilfe bei Anträgen, Behördengängen und Arztbesuchen, über Hausbesuchen durch Sozialarbeiter, bis zu Siedlungswarten mit komplettem Hausmeisterservice. Es gibt gemeinsame Festräume, offene Waschküchen, und ein Pflegehilfsmitteldepot zum Ausleihen von Krücken, Krankenbetten und Rollstühlen.

Darauf greifen auch schon agile Bewohner zurück, die eigentlich "topgesund" sind. Wie die einstige Schauspielerin Hannelore Schüttler, 79. Die attraktive, ideensprühende Dame hat vor einigen Monaten ihr erstes Scholle-Heim ("90 Quadratmeter, schick, aber im zweiten Stock ohne Aufzug") gegen eine kleinere modernere Wohnung mit Aufzug gewechselt. Seitdem fühlt sie sich geborgen: "Nach einer plötzlichen Rückenschmerzattacke brauchte ich kürzlich dringend einen Rollstuhl. Und der wurde auch umgehend kostenlos von einem Betreuer geliefert."

Extra-Leistungen kosten Gebühren

Nicht alles ist umsonst, aber immer fix zur Stelle. Der Putzservice der Freien Scholle zum Beispiel kostet acht Euro Stundenlohn. Auch Gabi Siegeroths mobiler sozialer Dienst kassiert Gebühren für einen Begleitservice: Wenn zum Beispiel der Zivi Bastian den Witwer Pieper zum Friedhof fährt, kostet das vier Euro pro Stunde und drei Euro Anfahrts-Pauschale. Der unruhige 83-Jährige mit dem schlohweißen Haarkranz investiert gern und oft in diese motorisierte Gesellschaft. Er wartet schon ausgehbereit an der Tür, als Bastian klingelt. "Ist der Herd aus? Haben Sie ihren Schlüssel? Dann geht's los." Die Fahrt enden meist in Piepers Lieblingscafe "Schumacher", wo er in sentimentaler Erinnerung an glücklichere Zeiten mit seiner Frau Pflaumenkuchen spendiert.

Weitere Informationen

Baugenossenschaft Freie Scholle eG
Jöllenbecker Str. 123
336613 Bielefeld
Tel 0521-98880
www.freie-scholle.de

Bastian und seine drei Kollegen sind in der Scholle sehr gefragt. Zum Beispiel bei der gehbehinderten Hannelore Blaschke, 75. Eine kleine Frau mit Brille, dünnen grauen Haaren und soliden Schuhen. Mit ihrem Shopping-Wägelchen tappt sie immer noch gern allein zum nahen Donnerstags-Markt. Doch bei größeren Einkäufen muss ein Zivi die Tüten nach Hause schleppen.

Soziale Kontakte bleiben erhalten

Wenn Frau Blaschke Gesellschaft sucht, rollt sie den kurzen Weg hinüber ins Nachbarschaftszentrum Meinolfstraße, eines von mehreren Bürgerheimen der Freien Scholle. Anlaufstellen für einsame, kontaktfreudige oder ratsuchende Mieter. Frau Blaschkes "zweites Heim" ist ein moderner Glas-Holz-Bau mit Cafeteria, Mittagstisch und Bibliothek. Die Bewohner der Siedlung treffen sich hier zum Essen, Spielen, und dem wöchentlichen Klönschnack. Es gibt Gymnastikstunden, Singrunden, Polizeisprechstunden, Flohmärkte, Ausflüge und PC-Schulung. Am Empfang sitzt die "gute Seele" Susanne Heinrich, die jeden kennt, immer hilft, und merkt, wenn ein bekanntes Gesicht lange nicht auftaucht. "Dann laß ich mal nachschauen, ob alles o.k. ist."

Wer nicht mehr allein klar kommt, findet Platz in zwei "betreuten Wohngemeinschaften". Der reine Mietpreis für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und behindertgerechtem Bad in einer solchen WG liegt bei 400 bis 480 Euro; dazu kommt eine Servicepauschale für Betreuung und Gemeinschaftsräume zu 127 Euro. Wer hilfsbedüprftiger wird, kann den Service weiter aufstocken, bis zur ambulanten Rundum-die-Uhr-Pflege.

Günstiger als im Altenheim

Das sei "bezahlbarer als Platz im örtlichen Altenheim zu 2800 Euro", meint Ingeborg Hennig. Die 83jährige WG-Mieterin sitzt gerade mit den anderen sechs betagten Mitbewohnerinnen am großen Kaffee-Tisch. Ihre WG-Betreuerin hat Plätzchen gebacken, "damit's richtig gemütlich ist". Von ihrem Balkon kann Frau Hennig zu ihrer alten Wohnung hinüberschauen, in der sie vierzig Jahre ihres Lebens mit ihrem früh verstorbenen Mann verbracht hat. "Eigentlich wollte ich da nie raus." Aber nach einer Parkison-Erkrankung "ging's nicht mehr". Sie nahm ihre Couchgarnitur und einige Perserteppiche mit, und fühlt nun sich in dem neuen stolperfreien Heim "bis zum Ende gut aufgehoben".