E-MAIL AUS NEW YORK Stillstand, unterirdisch

Seit einer halben Stunde bewegt sich die Bahn nicht mehr. Sie steht zwischen der 23. Straße und dem Union Square in einem dunklen, engen Tunnel. Ein unschönes Gefühl...

»As soon as we get any further information, we'll let you know.«

Das ist alles, was wir erfahren. »Wir«, das sind zirka 300 New Yorker und ich. Und was uns verbindet, ist die Tatsache, dass wir alle in der selben U-Bahn feststecken. Seit einer halben Stunde bewegt sich die Bahn nicht mehr. Sie steht zwischen der 23. Straße und dem Union Square in einem dunklen, engen Tunnel.

Ein unschönes Gefühl, nicht zu wissen, was los ist. Was passiert in diesem Augenblick über der Erde? Laut Durchsage gibt es eine ?Police Investigation' ein paar Stationen weiter. Doch auch diese Information beruhigt mich nicht.

Das Pflaster von der Wunde ziehen

Heute sind die letzten Geröllreste vom Ground Zero abtransportiert worden. Damit sind die Aufräumarbeiten offiziell beendet. Am Morgen fand eine kleine Abschlusszeremonie statt, und es wurde der Toten des 11. Septembers gedacht. Ein recht bewegender Tag also für viele. Mein Chef meinte, es sei so, als würde man das Pflaster von der Wunde ziehen.

Komisch, was einem so durch den Kopf geht, gefangen in einer U-Bahn in Manhattan. Der erste Gedanke: Ich will hier raus! Spontan fallen mir 1000 Plätze ein, an denen ich jetzt lieber wäre. Ich versuche, nicht daran zu denken, was passiert sein könnte. Suche nach Ablenkung.

Wie gehen wohl meine Mitreisenden mit der Ungewissheit um?

Ein Kind in dem Waggon schreit ununterbrochen. Ein älterer Mann spricht zu sich selber, faselt die ganze Zeit unverständliches Zeug. Er wirkt leicht verrückt. Neben mir sitzt eine Schwarze und schwitzt. Muss wohl die Nervosität sein, denke ich, denn eigenlich ist es hier eisig kalt, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren.

Bonbons und Banalitäten

Ein junger Asiate ist dagegen total entspannt. Seufzt einmal tief, wahrscheinlich wegen der ärgerlichen Verspätung, holt sein Buch hervor und beginnt zu lesen. Andere wiederum versuchen, ihre Unsicherheit zu überspielen. Sie verteilen Bonbons und fangen an, sich über Banalitäten zu unterhalten: »And where did you get your lovely sandals?« Ein Schwarzer mir gegenüber schimpft lautstark über den Zugführer. Er solle jetzt doch einfach mal weiterfahren.

Mittlerweile sind 45 Minuten vergangen, seit die U-Bahn stehengeblieben ist, und langsam wird mir wirklich mulmig. Zum Glück leide ich nicht unter Klaustrophobie, denke ich - im selben Moment gibt es einen Ruck, und die Bahn setzt sich langsam wieder in Bewegung. Ein allgemeines Aufatmen! Als wir die nächste Station erreichen, bin ich die Erste an der Tür. Puh ich bin wieder frei! Und laufe zu Fuß weiter.

Fortsetzung folgt...

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