Ein Service des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit stern.de.
Was ist ein Tarifvertrag?
Tarifverträge legen die Mindeststandards für alle wichtigen Arbeits- und Einkommensbedingungen fest: Löhne, Gehälter, Ausbildungsvergütungen, Arbeitszeit, Urlaub und Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Kündigungsfristen und vieles andere. Tarifverträge werden in der Regel zwischen einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband abgeschlossen. Sie heißen deshalb auch Verbandstarifverträge und gelten für die Mitglieder beider Tarifvertragsparteien, also für die Gewerkschaftsmitglieder und die Unternehmen, die Mitglied des Arbeitgeberverbandes sind. Tarifverträge mit einzelnen Unternehmen nennt man Haus- oder Firmentarifverträge.
Typisch für Deutschland - wie auch für viele andere europäische Länder - sind (Verbands-)Tarifverträge für ganze Branchen, deshalb auch Flächentarifverträge genannt. Für mehr als 250 Wirtschaftszweige gibt es solche Abkommen. Für große Branchen wie die Metall- und Elektroindustrie, aber auch für kleinere Bereiche wie zum Beispiel den Gartenbau, die Schuhindustrie, die Sektkellereien oder auch die privaten Rundfunkanstalten. Firmentarifverträge gibt es beispielsweise für Volkswagen, die Lufthansa, die Mineralölunternehmen, aber auch für zahlreiche kleinere Unternehmen.
Insgesamt gelten hierzulande zurzeit über 50.000 Tarifverträge. Jährlich werden zwischen 6000 und 7000 von ihnen erneuert. Lohn- und Gehaltstarifverträge in der Regel alle ein bis zwei Jahre, Rahmen- und Manteltarifverträge, die die allgemeinen Arbeitsbedingungen regeln, in größeren Abständen.
Warum überhaupt Tarifverträge?
Tarifverträge regeln den Arbeitsmarkt, in dem sie als Kollektivverträge verbindliche Vorgaben für die individuellen Arbeitsverträge machen. Sie greifen dadurch in die Markt-Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und -gebern ein. Der Preis für die Arbeit wird auf diese Weise der möglichen Konkurrenz der Arbeitnehmer untereinander zumindest teilweise entzogen.
Tarifverträge erfüllen also eine Schutzfunktion für die abhängig Beschäftigten. Sie sorgen des Weiteren dafür, dass diese an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben (Verteilungsfunktion) und ermöglichen ihnen insgesamt eine Beteiligung an der autonomen Regelung der Arbeitsbedingungen (Gestaltungsfunktion).
Tarifverträge nutzen jedoch nicht nur den Beschäftigten: Aus Arbeitgebersicht übernehmen die Tarifverträge eine Kartellfunktion und schaffen dadurch einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten. Hinzu kommt ihre Friedens- und Ordnungsfunktion: Während der Laufzeit der Verträge besteht Friedenspflicht, das heißt, es darf nicht gestreikt werden. Die Unternehmen erhalten durch die Verträge eine gesicherte Planungs- und Kalkulationsgrundlage.
Bei Verbands- oder Flächentarifverträgen kommt hinzu, dass der Konflikt um Löhne und Arbeitszeiten von den Betrieben ferngehalten und auf die Verbände verlagert wird (Koordinierungsfunktion).
Aus Sicht des Staates ist mit dem Tarifvertragssystem vor allem eine wirkungsvolle Entlastungsfunktion verbunden. Er kann sich auf eine Schlichterrolle bei schweren Tarifkonflikten zurückziehen.
Wie entstehen Tarifverträge?
Am Anfang steht die fristgerechte Kündigung des laufenden Tarifvertrages durch die Gewerkschaft. Sie übermittelt dem Arbeitgeberverband ihre Tarifforderungen, die sie nach einer breiten Diskussion der Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben beschlossen hat.
Die Verhandlungen werden von Tarifkommissionen geführt, in denen auf gewerkschaftlicher Seite neben hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären Mitglieder aus verschiedenen Betrieben teilnehmen.
Tarifverhandlungen für neue Lohn- und Gehaltstarifverträge können bereits nach wenigen Verhandlungen zum Ergebnis führen, manchmal ziehen sie sich aber auch über Monate hin. Auch wenn es nach ergebnislosen Verhandlungen zu einem "tariflosen" Zustand kommt, gelten die alten Tarifverträge zunächst weiter (Stichwort "Nachwirkung").
Tarifabschlüsse in großen Branchen, wie zum Beispiel der Metall- und Elektroindustrie, haben oft eine Orientierungs- und Pilotfunktion für die nachfolgenden Verhandlungen in anderen Wirtschaftszweigen.
Gelingt es den Tarifparteien alleine nicht, durch Verhandlungen zu einem Ergebnis zu kommen, können sie unabhängige Schlichter hinzuziehen. An deren Vorschläge sind sie allerdings nicht gebunden.
Die Gewerkschaften können während der Verhandlungen zu kurzen, befristeten Arbeitsniederlegungen (Warnstreiks) aufrufen. Nach Ablauf der Friedenspflicht sind auch reguläre (unbefristete) Streiks möglich. Voraussetzung dafür ist zumeist eine Zustimmung von mindestens 75 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung. Nach einem Streik stimmen sie auch über das erzielte Ergebnis ab.
Der Streik ist die wichtigste Voraussetzung für die praktische Wahrnehmung der "Tarifautonomie". Denn der Streik ist die einzige Möglichkeit der Arbeitnehmer, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Das Bundesarbeitsgericht hat einmal formuliert: "Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik ist wie 'kollektives Betteln'".
In Deutschland wird vergleichsweise wenig gestreikt. In der internationalen Streikstatistik rangieren die deutschen Arbeitnehmer im unteren Drittel.
Wer hat Anspruch?
Anspruch auf tarifliche Regelungen und Leistungen haben ausschließlich die Mitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft im jeweiligen Tarifbereich.
Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erhalten in einem tarifgebundenen Unternehmen in der Regel ebenfalls die Tarifleistungen, weil kein Arbeitgeber sie durch schlechtere Arbeits- und Einkommensbedingungen zum Gewerkschaftsbeitritt veranlassen möchte. Sie profitieren damit als "Trittbrettfahrer" von den Ergebnissen gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Einen Rechtsanspruch haben sie allerdings nicht, es sei denn, im individuellen Arbeitsvertrag wird ausdrücklich auf die Tarifverträge Bezug genommen.
Vielfach orientieren sich Unternehmen, die nicht im Arbeitgeberverband sind, auch an den Branchentarifen. Dazu sind sie allerdings nicht verpflichtet. Ausnahme: Wird ein Tarifvertrag für "allgemeinverbindlich" erklärt, dann gilt er für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Tarifbereich. Durch Allgemeinverbindlichkeit soll Schmutzkonkurrenz zwischen Unternehmen zulasten der Beschäftigten verhindert werden.
In Deutschland arbeiten rund zwei Drittel der Arbeitnehmer in Betrieben mit Tarifbindung.