Montagmorgen, knapp 9000 Kilometer von Bielefeld. Die Straßen Schanghais flirren in der Hitze. Die opake Brühe des Suzhou-Flusses, der die Yi Chang Road ein Stück weit begleitet, gluckert träge im Bett. Am Ende der Straße, in der zwischen filigranen Bambusgerüsten ein Wald von Wohnhochhäusern emporwächst, liegt ein kleines Areal, das sich dem allgegenwärtigen Gebot der Stadt - "Wachse oder weiche!" - zu widersetzen scheint. Die Häuslein hier sind nicht gewachsen, sie haben sich gewandelt.
Von den kleinen Lagerhallen, die sie seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren, zu Keimzellen der Kreativität, in denen sich mit städtischem Wohlwollen junge Start-Ups angesiedelt haben. Hier, im "Warehouse Creative Center", versteckt sich hinter einer trutzburgartigen Stahltür das Büro dreier "Lao Wai" - "Fremder". So nennen Chinesen gern die Nichtchinesen. Die schwere Tür gewährt auf Knopfdruck Zutritt, indem sie sich um die eigene Achse dreht.
Globales Nomaden- und Unternehmertum
Im ersten Stock, auf einer Art Bürobalkon, sitzt Julius Dreyer hinter einem großen Flachbildschirm. Weißes T-Shirt, Shorts, die Beine leger übereinander geschlagen. Am Nebentisch sein Bruder David. Von hier oben haben sie gute Sicht auf fast jeden Arbeitsplatz in dem Großraumbüro. Sie erzählen von früher. Einem Früher, das erst vier Jahre vergangen ist. Die Bundesrepublik, besonders in ihrer Materialisierung Bielefeld, erschien ihnen damals zu eng, zu klein, zu piefig. Sie wollten reisen, die Welt sehen. Und unterwegs im Internet den Lebensunterhalt verdienen. Mit dem World Wide Web, so ihre Hoffnung, ließen sich globales Nomaden- und Unternehmertum verweben. David, 22, und Julius, 20, hatten nur noch darauf gewartet, dass ihr jüngerer Bruder Robert endlich das Abi in der Tasche hatte. Dann schnappten sie ihn und stiegen in den Flieger, drei Weltreisende. "Im Rückblick", sagt Julius Dreyer, "war das jugendliche Kurzsinnigkeit". Schanghai sollte die erste Station ihrer Weltgeschäftsreise werden.
Schanghai, das war zugleich auch die Endstation der Reise. Schlecht war das nur fürs Nomadentum: Heute haben die Dreyer-Brüder in ihrem zweistöckigen 1000-Quadratmeter-Büro mehr als 40 Mitarbeiter um sich versammelt, Programmierer und Systemadministratoren, Marketingleute und Webdesigner aus mehr als zehn Nationen. Die meisten Mitarbeiter sind älter als sie, viele zehn, manche 20 Jahre. Sie nennen sich "The Netcircle". Sie haben sich auf spezialisierte Social Communities spezialisiert - und virtuelle Anlaufstellen für ehemalige Schulfreunde, für Homosexuelle und für Fans von One Night Stands erdacht. Viele der Seiten: halbgare Testballons, die weitgehend unbeachtet im Gewusel des Internets verschwinden. Manche aber haben abgehoben. Auf bis zu 170 Millionen Klicks bringen sie es inzwischen pro Monat. Zwei Millionen Nutzer, manchmal 14.000 zugleich, sind auf den Netcircle-Seiten online. Damit lässt sich gut verdienen. Durch Werbung vor allem und kostenpflichtige "Premium-Mitgliedschaften". Der Umsatz liegt im siebenstelligen Bereich.
"Wir hatten von relativ wenig 'ne Ahnung"
Schon in einem Alter, als sie an der Supermarktkasse noch nicht einmal Bier bekamen, hatten Julius und David Dreyer im Internet ihr erstes Geld gefischt. Mit einer simplen, aber effektiven Taktik. Sie kauften leicht einprägsame Internetseiten wie www.konzert.de und optimierten sie obendrein so, dass sie leicht von Suchmaschinen wie Google gefunden werden. Wen sie damit auf ihre Seite gelockt hatten, leiteten sie via Link zu anderen Anbietern weiter - die ihnen dafür ein paar Cent Vermittlungsgebühr überwiesen. Bis 2004 war auf diese Weise genug Geld für eine Weltreise zusammengekommen. Ihr Vater indes war wenig begeistert von dem ziellosen Fernweh seiner Söhne. Zumindest, drängte er, solle die Reise sie auch die Karriereleiter hinaufführen. Er drückte ihnen einen Artikel über Schanghai in die Hand, die "Stadt der Zukunft", hieß es darin. Noch am selben Tag buchten sie ihren Flug.
Als sie Bielefeld verließen, konnten die drei Dreyer-Brüder kein Wort Chinesisch. Überhaupt hatten sie "von relativ wenig 'ne Ahnung", gibt Julius Dreyer zu. Doch Ahnungslosigkeit ist schließlich kein Grund, etwas nicht zu tun. Manchmal ist das Machen entscheidender als das Können. Letzteres lässt sich durch Improvisationstalent und die richtigen Kontakte ersetzen. Und durch das Glück, zur richtigen Zeit die richtigen Leute zu treffen. Bevor die drei Ahnungslosen in China landeten, hatte ein hilfsbereiter Fluggast ein paar chinesische Zeichen auf einen Fetzen Papier gekritzelt, damit sie wenigstens zu ihrem Hotel finden würden. Spätestens da wussten sie, alles andere würde sich schon ergeben.
Eine Legebatterie für Computerspezialisten
Nach einigen Wochen in Jugendherbergen mieteten sich die Brüder ein Sechs-Zimmer-Apartment an. Von hier aus betrieben sie ihr Internet-Geschäft. Kauften Dutzende Domains, gründeten Communities, stießen Domains wieder ab. Waren Marktschreier und Schnäppchenjäger zugleich auf einem virtuellen Basar, wo mit Namen und Ideen gehandelt wird. Eine ihrer neu gegründeten Communities, die Dating-Seite mit dem schlüpfrigen Namen www.poppen.de, stieg zu einer der größten Kontaktbörsen im deutschsprachigen Internet auf. Sie legten Nachtschichten ein, um die Seite am Laufen zu halten. Sie holten sich Programmierer und Webdesigner in die Wohnung, immer mehr, bis diese Ende 2007 einer Legebatterie für Computerspezialisten glich. Dreißig von ihnen quetschten sich allmorgendlich in das Apartment und vor die Bildschirme, Bürostuhl an Bürostuhl.
Wachse und weiche: Als die Stadt ihnen die alte Lagerhalle am Suzhou-Fluss als Arbeitsquartier anbot, war das für beide Seiten ein gutes Geschäft. Die Bielefelder Jungunternehmer restaurierten vier Monate lang die alten Gemäuer. Dafür garantierte ihnen Schanghai fünf Jahre Bleiberecht und eine marktunüblich niedrige Miete. Auch sonst arrangieren sich die Brüder mit dem berüchtigten chinesischen Behördenapparat. Eigentlich, sagt Julius Dreyer, sei ihm nur ein einziges Negativbeispiel in Erinnerung. Als er wegen der rasanten Expansion siebzehn Arbeitsvisa auf einen Streich benötigte, stellte sich die Ausländerbehörde quer. Das ginge so, natürlich, nicht: "Siebzehn Neueinstellungen! Und kein einziger Chinese!" Julius Dreyer erzählt das mit einem gelassenen Lächeln, das von vier Jahren Schanghai-Erfahrung spricht. Irgendwie, sagt es, klappen die Dinge hier dann doch immer. Mit Gelassenheit und Improvisationstalent. Und mit der ortsüblichen kleinen Aufmerksamkeit für offizielle Stellen.
Schwulen und Lesben sollen den internationalen Durchbruch bringen
Die siebzehn Visa wurden genehmigt. Und so konnte plangemäß das jüngste "Netcircle"-Projekt ins Netz gehen: www.gays.com, eine englischsprachige Social Community für Schwule und Lesben. Die Seite soll eine Art "Gaysbook" werden - nicht um das schnelle Date mit schnellem Sex soll es gehen, sondern, wie beim großen Vorbild Facebook, um das Knüpfen und Verwalten langfristiger Bekanntschaften. Langfristig, sagt Julius, sei auch die Investition in den griffigen Domainnamen, immerhin 500.000 US-Dollar, zu sehen. Denn die Bielefelder Bruderschaft will mit der Schwulenseite den internationalen Markt in Angriff nehmen. Ausgerechnet von China aus. Julius Dreyer findet das so ungewöhnlich gar nicht: "In Sachen Homosexualität sind die Chinesen sehr tolerant, auch was die Internetzensur in diesem Zusammenhang angeht."
Pünktlich zum Launch der Seite fanden in Peking, Schanghai und der Millionenstadt Guangzhou Gay-Partys statt. Vom Plan, Neumitgliedern nur über persönliche Einladung Zugang zu dem Netzwerk zu gestatten, ließen die Netcircle-Macher nach einigen Wochen ohne nennenswertes Useraufkommen wieder ab. Die Türpolitik wurde gelockert. Seitdem treten täglich mehrere Hundert Neumitglieder über die Schwelle des virtuellen Schwulentreffs.
Bis Jahresende, erklärt Julius Dreyer hinter seinem Flachbildschirm und blickt in die Geschäftigkeit des Büros, soll die Netcircle-Belegschaft auf 60 anwachsen. Wachse! Und weiche? Die drei Bielefelder Brüder können sich vorstellen, nach vier Jahren ausschließlichen Unternehmertums auch die Sache mit dem Nomadentum wieder aufleben zu lassen. "Internetgeschäfte lassen sich von überall aus machen", sagt Julius Dreyer. Die Weltgeschäftsreise kann weitergehen. Die Reisekasse ist gut gefüllt.