Es war einmal ein kleiner Junge, der wuchs auf in einer Trabantensiedlung neben der Autobahn. Kaum war er in der ersten Klasse, blieb er auch schon sitzen. Ohne Schulabschluss stolperte Lars Polap - so hieß der Junge - durchs Leben. Eine ABM-Maßnahme brach er ab. Sein Sachbearbeiter vom Arbeitsamt drängte, da machte Lars Polap doch noch seinen Hauptschulabschluss, aber eine Ausbildung zum Masseur schmiss er nach ein paar Monaten. Er war jetzt 22, lebte von Sozialhilfe, und das Geld war knapp: zu viele Discobesuche, zu viele Bestellungen bei Versandhäusern.
Erster Job: Page
Doch eines strahlenden Morgens las Lars Polap eine Stellenanzeige: "Hotel sucht Pagen". Flugs lief er los und drückte dem Hoteldirektor seine sehr übersichtlichen Bewerbungsunterlagen in die Hand: eine Seite mit dem Zeugnis des nachgemachten Hauptschulabschlusses. Der Hoteldirektor gab ihm einen Vertrag mit einem mickrigen Gehalt und dazu eine wunderhübsche Uniform. Schon am nächsten Morgen stand Lars Polap vor dem Vier-Sterne-Hotel, er trug den Reichen und den Wichtigen die Koffer und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben auch ein klein wenig wichtig dabei.
Nach einem Jahr wechselte er in die Nachtschicht an der Rezeption, er stand jetzt hinter dem langen Tresen in der Eingangshalle und begrüßte die Gäste. Nach weiteren sechs Jahren durfte er rauf in ein Büro in den ersten Stock. Immer höher stieg Lars Polap aus Bremen-Tenever, dem Schmuddelstadtteil an der A27, sein Gehalt war jetzt doppelt so hoch wie einst als Page. Er trug Anzüge, eine Krawatte mit goldener Nadel und blank polierte schwarze Schuhe. Aus seinem alten Viertel war er längst weggezogen, nur ab und zu hörte er, dass ehemalige Klassenkameraden im Knast saßen oder an einer Überdosis gestorben waren. Dann betrachtete Lars Polap seine neue Visitenkarte, auf der stand: "Food and Beverage Management Assistant", und lächelte dankbar und zufrieden.
Aufstiegsgeschichten sind selten
Sie kommt einem wie ein Märchen vor, die Geschichte des Lars Polap. Weil eine kleine Karriere, ein Aufstieg von ganz unten in die Mitte der Gesellschaft so selten geworden ist in Deutschland. "Die Perspektive, erst einmal eine Arbeit anzunehmen, wie prekär sie auch sein mag, und sich dann hochzuarbeiten, verliert in der neuen Arbeitswelt der Ein-Euro-Jobber und der Leihkräfte immer mehr ihre Grundlagen", sagt der Hamburger Sozialforscher Berthold Vogel. Bernhard Dohne, Lars Polaps ehemaliger Chef, der neun Jahre lang Hoteldirektor im Maritim Bremen war und heute das Maritim Berlin leitet, meint, der Aufstieg des Lars Polap vom Koffer- zum Anzugträger sei die absolute Ausnahme: "Die Position, die er hat, bekommt man sonst nur mit Ausbildung."
Seit deutsche Politiker das Wort "Unterschicht" entdeckt haben, wird viel darüber geredet, wie man apathische Arbeitslose dazu bringen kann, sich um einen Job zu bemühen. Aber gibt es überhaupt genug Arbeit für die Unterschicht? René Leicht vom Mannheimer Institut für Mittelstandsforschung hat in einer Befragung von über 1000 Firmen herausgefunden, dass Jobs für schlecht Qualifizierte vor allem noch in kleineren und mittleren Betrieben zu finden sind: "Die Großunternehmen agieren auf dem internationalen Markt und verlagern ihre Niedriglohnjobs ins Ausland", sagt Leicht.
Einfachjobs nur mit Abschluss
Chancen für Ungelernte sieht Leicht am ehesten bei lokalen Dienstleistungen - im Gastgewerbe, im Gesundheitswesen, der Gebäudereinigung- und überwachung. "Allerdings werden Ungelernte zunehmend durch Leute mit Ausbildung verdrängt, die auf dem engen Arbeitsmarkt nichts anderes finden. Immer mehr Einfachjobs werden auch mit Studenten und Schülern besetzt", sagt Leicht. In den vergangenen dreißig Jahren stieg die Arbeitslosenquote von Personen ohne Ausbildung in den alten Bundesländern von 6 Prozent auf mehr als 20 Prozent. Im Osten ist sogar jeder zweite gering Qualifizierte arbeitslos.
"Einfachjobs verschwinden, aber die Leute, die nur diese Jobs machen können, verschwinden nicht", bringt der Münchner Arbeitssoziologe Wolfgang Bonß das Problem auf den Punkt. Die Anforderungen in allen Berufen steigen: "Heute ist der Schornsteinfeger Abgastechniker, der Kfz-Mechaniker Mechatroniker", so Bonß. Der mittelständische Sägenhersteller Stihl aus Waiblingen erwartet selbst von Fließbandarbeitern eine abgeschlossene Ausbildung: "Seit 2000 stellen wir nur noch ausgebildete Mitarbeiter ein, auch im Lager und der Montage. Wer eine Ausbildung hat, egal, welche, hat bewiesen, dass er gelernt hat, wie man lernt", so Stihl-Sprecher Stefan Caspari.
Ohne Abschluss helfen nur noch "soft skills"
Wer keine formale Bildung hat, hat nur noch eine Chance, wenn er höflich, pünktlich und teamfähig ist. Und so gut schnacken kann wie Lars Polap. Wenn der 37-Jährige durchs Hotel läuft, mit einem Auszubildenden ins Weinlager geht, mit dem Einkaufsdirektor über die Budgetplanung spricht, dann lacht er jeden an. "Ich hab dich lieb", schmettert er einem Getränkelieferanten entgegen, der ihm gerade ein besonders günstiges Angebot gemacht hat.
"Der Polap ist einfach ein unheimlich guter Mensch, ein Segen für jedes Team. Und er hat diesen Fleiß, den ganz großen Fleiß. Da war es dann irgendwann wurscht, dass er keine Ausbildung hat. Die Position des Einkäufers haben wir extra für ihn geschaffen", sagt Polaps Ex-Chef Bernhard Dohne. Heute organisiert Lars Polap Bankette für 1500 Personen. 35 Fortbildungen hat ihm das Hotel ermöglicht: in Datenverarbeitung, Hygiene, Telefonmarketing, Kundenservice. Als er auch noch zum Rhetorik-Seminar wollte, wunderten sich die Kollegen: "Du? Du redest doch wie ein Buch." "Ja, aber ich will nicht nur viel, sondern auch schön sprechen", antwortete Lars Polap.
Jahrzehntelang dachten Sozialforscher an Menschen wie Lars Polap, wenn sie die deutsche Arbeitswelt mit einem verheißungsvollen Wort beschrieben: Aufstiegsgesellschaft. Eine Gesellschaft, in der alle sicher sein konnten, dass sie in zehn Jahren mehr besitzen würden als heute. "Heute fährt der Fahrstuhl nach oben immer seltener, nur nach unten geht es ganz schnell", sagt der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre. In der als "Unterschichten-Studie" bekannt gewordenen Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung fürchtet quer durch alle Schichten knapp die Hälfte der Befragten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können. 14 Prozent sehen sich als Verlierer. Und 8 Prozent, das "abgehängte Prekariat", denken gar nicht mehr über den Aufstieg nach, weil ihnen oft schon der Einstieg in die Arbeitsgesellschaft unmöglich scheint.
Keine Aufstiegsgesellschaft mehr
Deutsche Politiker reden gerade wenig über die, die es schaffen, über Leute wie Lars Polap. Warum gerade er? Wenn der kleine Lars Polap mit seinem Bruder von der Schule kam, schob seine Mutter noch Schicht in einem Imbiss. Nicht nur seine Mutter, alle in der Familie arbeiteten: "Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, aber Onkel und Tanten - alle im Job, alle im Leben", erzählt Lars Polap. Als er selbst arbeitslos war, fand er das "ekelerregend". Er engagierte sich ehrenamtlich beim Roten Kreuz: "Ich hab mich dichtgebombt mit Veranstaltungen, mir wär sonst die Decke auf den Kopf gefallen." Er schmierte Brötchen, betreute Leute nach Blutspenden und kämpfte beim Arbeitsamt darum, einen Monat Auszeit zu bekommen, um Kleiderspenden in Lettland zu verteilen.
"Arbeitslose sind ganz selten ehrenamtlich tätig, obwohl sie ja die Zeit hätten", sagt Soziologe Bonß. Wer länger als sechs Monate arbeitslos sei, werde oft apathisch und habe Probleme, seinen Tagesablauf zu strukturieren, so Bonß. Diese psychische Lähmung haben Forscher bei Unqualifizierten und Akademikern gleichermaßen beobachtet.
Vorbild war die eigene Familie
Lars Polap kann nicht erklären, warum er sich nie aufgegeben hat. "Ich hab halt weitergemacht, auch wenn ich vorher alles verbockt hatte. Man will doch leben!" Mit 18 lachte er noch über die Mutter seiner ersten Freundin, die ihm Bügelfalten in die Bundeswehrkampfhosen machte und ständig wiederholte: "Lern was Anständiges, Junge." Als er mit 21 seinen Hauptschulabschluss nachmachte, setzte er sich in die erste Reihe.
Lars Polaps Märchen geht übrigens noch weiter: Eines strahlenden Morgens traf er im Frühstücksraum eine Frau, die war hübsch und schlau, hatte sogar Abitur. Sie war aus dem Osten Deutschlands gekommen, um Arbeit zu finden, irgendeine. Sie arbeitete als Kellnerin im Hotel. Er betete sie monatelang an, und irgendwann küsste sie ihn, und die beiden heirateten und bekamen eine kleine Tochter mit großen Füßen.
Mitarbeit: Catrin Boldebuck, Ingrid Eissele, Annika Graf, Mathias Rittgerott, Doris Schneyink