Lohnkostenstudie Arme Deutsche, reiche Deutsche

Die Gewinne der Unternehmen explodieren - gleichzeitig steigen die Lohnkosten in Deutschland langsamer als in jedem anderen europäischen Land. Das ergab eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Wie die Studienergebnisse zu deuten sind, dazu befragte stern.de die Stiftung - und Ifo-Chef Sinn.

Um gerade mal 0,8 Prozent steigen die Lohkosten dieses Jahr in Deutschland. Das ist im europäischen Vergleich "Peanuts". Im Durchschnitt steigen die Lohnkosten im europäischen Ausland um drei bis vier Prozent, in Griechenland sogar um 5,9 Prozent. Am stärksten jedoch holen die osteuropäischen Staaten auf: In Lettland wird ein Unternehmer etwa 15 Prozent mehr für seine Angestellten ausgeben müssen. Zu den Lohnkosten zählen Ökonomen den Lohn beziehungsweise das Gehalt sowie die Lohnnebenkosten, die für Sozialbeiträge bezahlt werden müssen.

Thorsten Schulten, der Verfasser der Lohnkosten-Studie, hält die deutsche Entwicklung für ökonomisch zwiespältig. Einerseits glaubt Schulten, dass der niedrige Anstieg den Standort Deutschland gestärkt hat, also die Produkte konkurrenzfähiger werden. "Ein Erfolg ist, dass wir seit Jahren Exportweltmeister sind", sagt Schulten im Gespräch mit stern.de. Andererseits sieht der Wissenschaftler den Binnenmarkt in Gefahr. Denn je weniger die Arbeitnehmer in der Tasche haben, desto weniger können sie ausgeben. Und in dieser Hinsicht ist die Zukunft für Schulten alles andere als rosig. Es gebe die "Gefahr eines europaweiten Absenkungswettlaufs um die niedrigsten Lohnkosten."

Exportweltmeister, Reiseweltmeister

Zwei Ergebnisse der Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die den Gewerkschaften nahe steht, zeigen indes an, dass die Realität komplexer ist, als es Schultens Interpretationslinie vermuten lässt. Denn das Lohn- und Gehaltsgefüge differiert unter den Branchen erheblich. Während in der verarbeitenden Industrie mit 30 Euro pro Stunde die zweithöchsten Lohnkosten in Europa anfallen, werden im Dienstleistungssektor nur 24 Euro pro Stunde bezahlt - deutlich weniger als der europäische Durchschnitt.

Hans Werner Sinn, Chef des renommierten Münchner Ifo-Institus, mag der Argumentation der Hans-Böckler-Stiftung ohnehin nicht folgen. In einer Stellungnahme für stern.de schreibt Sinn: "Die Behauptung, die Binnennachfrage sei gering, weil die Löhne zu niedrig seien, ist bloße Gewerkschaftsproganda." Laut Sinn ist eher das Gegenteil richtig: Die hohen Löhne hätten die Preise so weit steigen lassen, dass sich die Nachfrage zunehmend ins Ausland verlagere. "Beispiel: Tourismus. Welcher Deutsche kann sich den Urlaub im Inland angesichts der Preise der deutschen Dienstleistungen noch kaufen? Man geht ins Ausland, weil dort die Löhne niedriger sind. Deutschland ist Weltmeister bei den Auslandsreisen."

Die Textilbranche ist schon weg

Ein Wettbewerb um niedrige Löhne sei im Übrigen nicht zu befürchten, sondern schon voll im Gange. "Das Problem sind die ex-kommunistischen Länder, die 28% der Menschheit umfassen und seit einem guten Jahrzehnt mit ihren Produkten und als Investitionsstandort mit uns konkurrieren. Denen ist unsere Befindlichkeit in der Lohnfrage völlig egal. Die wollen selbst reich werden und machen uns Konkurrenz, ob wir es wollen oder nicht. Die Löhne in China sind ein Dreißigstel der westdeutschen Löhne, die Löhne in den osteuropäischen EU-Ländern ein Achtel." Aus diesem Grund, so Sinn, sind die deutschen Löhne für einfache Arbeiten unter massivem Druck - falls diese einfachen Arbeiten überhaupt noch in Deutschland erledigt würden. Laut Sinn sind Branchen wie Textil, Leder, Feinmechanik und Optik, die besonders arbeitsintensiv sind, schon weitgehend ins Ausland abgewandert. In Deutschland blieben nur jene Betriebe, die einen besonders hohen Einsatz von Kapital und Know-How erforderten.

Anders gesagt: Für Menschen, die nur einfache Arbeiten verrichten können oder wollen, sieht es in Deutschland finster aus, gleichgültig wie die Lohnentwicklung läuft. Denn eine polnische Wäscherin oder einen chinesischen Fließbandarbeiter werden sie kostenmäßig nie unterbieten können. Sinn fordert daher einen "aktivierenden Sozialstaat", der mit Lohnzuschüssen auch einfache Tätigkeiten wieder attraktiv macht: sowohl für Unternehmer als auch für Arbeitslose.

sel/lk

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