Börse Ein Crash aus dem Lehrbuch

Der Ökonom Hyman Minsky hat es kommen sehen: Börsenprofis stürzen die Finanzmärkte in die Krise. Die Rechnung zahlen Millionen Kleinanleger - und es wird wieder passieren.

Der Name Hyman Minsky ist an der Wall Street momentan in aller Munde. Minsky ist weder Milliardär noch Finanzjongleur, keiner der "Masters of the Universe", wie US-Starautor Tom Wolfe die Finanzprofis in seinem Buch "Fegefeuer der Eitelkeiten" nennt. Hyman Minsky war ein bisher relativ unbeachteter amerikanischer Ökonom, der 1996 im Alter von 77 Jahren starb. Doch dem ehemaligen Professor der Universität von St. Louis ist etwas gelungen, was die Herren des Universums nicht geschafft haben: Er hat in seinen Arbeiten das kommen sehen, was gerade an den weltweiten Finanzmärkten passiert - eine plötzliche Krise trotz boomender Wirtschaft.

Minskys über 20 Jahre alte Fachbücher werden zurzeit beim Onlinebuchhändler Amazon gebraucht für bis zu 1750 Dollar an Liebhaber verkauft. Die Finanzbranche spricht ehrfürchtig vom "Minsky-Moment" und meint damit den Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, wie schlimm die Finanzkrise werden wird. Die Profis in London, New York oder anderswo werden in dem unscheinbaren schwarzen Band lesen, wie sie die Krise selbst verschuldet haben und was für gravierende Auswirkungen ihre Gier noch haben kann. Denn auch wenn sich vergangene Woche die Börsen etwas beruhigt haben, sind die Probleme längst nicht überstanden. Noch immer kann es zum gefürchteten "Minsky-Meltdown" kommen. Gemeint ist - analog zum Atomkraftwerk - ein GAU der Finanzmärkte. Minskys Ideen sind eigentlich simpel: Sie besagen, dass in einer langen, stabilen Aufschwungphase der Weltwirtschaft die professionellen Anleger zu wagemutig werden. Auf der Jagd nach Rendite verschulden sie sich höher und höher und gehen größere Risiken ein, ohne sich dabei ausreichend abzusichern.

Die Panik erfasst den ganzen Finanzmarkt

Motto: Es wird schon weiter aufwärts gehen. Sie ignorieren dabei den gesunden Menschenverstand, der sagt: Nichts dauert ewig. Irgendwann kracht es, und die Panik greift auf den ganzen Finanzmarkt über. Obwohl Minskys Theorie einfach und logisch erscheint, wurde sie lange vom Mainstream der US-Ökonomen eher belächelt: Die glaubten an die Kraft der Märkte, die das Risiko im Griff behalten würden. Die letzten Monate haben bewiesen: Sie lagen falsch. Erbracht wurde der Beweis im Handel mit amerikanischen Hypothekenkrediten. Viele Jahre stiegen in den USA die Preise für Wohnungen und Häuser. Ein Eigenheim wurde dadurch zum scheinbar sicheren Geschäft: Wer es verkaufte, bekam mehr raus, als es ihn gekostet hatte. Hausbesitzer konnten ihre Kredite zurückzahlen und behielten Geld übrig. Häufig wurde damit ein größeres Haus gekauft, das Spiel begann erneut. Die Banken gaben sorglos Kredit auf die gestiegenen Hauswerte, denn an den Krediten wurde klotzig verdient.

Konnten Schuldner nicht mehr zahlen, so glaubten die Banker, müsse nur das Haus verkauft werden, und jeder bekäme sein Geld zurück. Ein Perpetuum mobile der Geldvermehrung. Zuletzt bekamen sogar Menschen Kredit, bei denen von vornherein klar war, dass sie die Raten nie aufbringen könnten. Und um noch mehr Geld verleihen zu können, schnürten Banken die Kredite zu Paketen und verkauften sie an professionell gemanagte Fonds. Dabei wurden Kredite gut verdienender Kunden mit potenziellen Problemfällen gemischt. Die Risiken erschienen den Käufern dieser Pakete dadurch geringer. Wieder wurde etwas ignoriert, was eigentlich völlig logisch ist: Risiken bleiben gleich, egal wie oft man sie neu verpackt. Am Ende wird das Geld vom Schuldner zurückgezahlt oder eben nicht. So flossen Milliarden Dollar in Quadratkilometer voller Eigenheime. Dann kam der "Minsky-Moment": Als klar wurde, dass es viel zu viele Häuser gab, die keiner brauchte, fielen die Preise. Die ersten Kredite platzten, und zwangsversteigerte Häuser brachten nicht mehr die Kreditsumme ein. Banken und Fondsmanager mussten, um zahlungsfähig zu bleiben, weitere Kredite eintreiben. Gleichzeitig wurde die Vergabe neuer Darlehen erschwert.

Persönliche Verluste halten sich in Grenzen

Das drückte die Hauspreise weiter, weil selbst Interessenten, die kaufen wollten, keine Finanzierung mehr bekamen. Am Ende warfen Banken und Fonds alles auf den Markt, was ihnen werthaltig erschien, um ihre Verluste zu decken. Die Krise hatte den ganzen Finanzmarkt erfasst. Minskys These war bestätigt. Aber muss das so sein? Es lohnt sich, einen Blick auf die Beteiligten zu werfen. Die Krise der Finanzmärkte hat zwei Seiten: Auf der einen stehen die Millionen amerikanischer Hausbesitzer, die oft alles verloren haben. Überdies leiden Millionen Anleger weltweit, deren Wertpapiere empfindliche Verluste hinnehmen mussten. Auf der ganzen Welt gingen laut Angaben der Commerzbank binnen eines Monats etwa 6000 Milliarden Euro verloren. Auf der anderen Seite stehen die Finanzprofis: Sie haben die Krise verschuldet. Ihre Sorglosigkeit bei der Kreditvergabe - kombiniert mit dem von Raffgier getriebenen Erfindungsreichtum bei der Kreation immer undurchsichtigerer Finanzinstrumente - hat die Milliarden vernichtet.

Doch die persönlichen Verluste der "Masters of the Universe" halten sich in Grenzen: So wurde eine Gruppe Investmentbanker, die in Rekordzeit 100 Millionen Euro verloren hatte, in der vergangenen Woche von der Deutschen Bank lediglich in eine andere Abteilung versetzt. Viele Finanzprofis sehen den Absturz ausgesprochen gelassen. Warren Spector, 49, zum Beispiel war bis Anfang August einer der Stars der US-Investment-Bank Bear-Sterns. Im vergangenen Jahr bekam der Hedgefonds-Manager 36,9 Millionen Dollar Gehalt. Doch zwei seiner Fonds verloren in den letzten Monaten mindestens 1,6 Milliarden und mussten geschlossen werden. Währenddessen spielte Spector unbekümmert eine Woche lang Karten: Bei den nationalen Bridgemeisterschaften in Nashville, Tennessee, landete er auf Platz 95. Kurz darauf wurde er gefeuert und hat nun noch mehr Zeit für sein Hobby. An Geld mangelt es ihm sowieso nicht. Und in der Branche wird er immer noch bewundert, was ihm mittelfristig sicher wieder einen Job beschert.

"Wenn der Markt am Ende ist, muss man zuschlagen"

Vielleicht macht sich Spector aber auch mit einem eigenen Hedgefonds selbstständig. So wie sein Kollege Mark McGoldrick, 48, Spitzname "Goldfinger". Der stieg Anfang des Jahres bei der weltweit führenden Investmentbank Goldman Sachs aus. Jahrelang hatte er für die Firma, die gerade drei Milliarden Dollar in mehrere Hedgefonds nachschießen musste, mit riskanten Geschäften Milliarden verdient. Dann fühlte er sich unterbezahlt. McGoldrick verdiente 2006 rund 70 Millionen Dollar und macht zurzeit Urlaub auf seinem Gestüt auf der Promi-Insel "Martha's Vineyard" vor der amerikanischen Ostküste. Doch die Marktturbulenzen locken: Wo Unruhe ist, ist auch Geld zu verdienen. Wer nun den Eindruck hat, dass viele Kleine viel Geld verloren haben und die Verantwortlichen der Misere erst viel Geld verdient und dann viel Freizeit gewonnen haben, ist dem System der globalen Finanzindustrie auf der Spur: Einigen Finanzprofis kommt der selbst verschuldete Crash gerade recht.

An der Wall Street denken manche Händler schon weiter: "Wenn der Markt am Ende ist, muss man zuschlagen", sagt Nick Conti, Finanzmanager bei Mercer Asset. "Kauf jetzt, Mann!", ruft sein Kollege Calvin Vaval. "Das ist die Zeit für Investoren." Sie haben gut verdient in den vergangenen Jahren. Und wenn es in diesem Jahr etwas weniger wird, dann schlagen sie eben 2008 umso kräftiger zu. Sie denken da eher in Fünf-Jahres-Bilanzen. Ohne es auszusprechen, stoßen die beiden Profi-Anleger zum zentralen Problem der Welt-Finanzmärkte vor: der Frage, wer mit welcher Motivation Risiken eingeht. Das meiste Geld auf diesen Märkten stammt von kleinen Anlegern, die direkt oder per Pensionsfonds und Lebensversicherung für ihr Alter vorsorgen wollen. Sie suchen langfristig eine gute Rendite, meiden aber Risiken, weil sie später auf Geld angewiesen sind. Ausfälle können sie sich nicht erlauben. Am besten für sie geeignet wären deshalb Anlagen, die schlicht mit dem realen Wachstum der Weltwirtschaft Schritt halten.

Ein Crash ist geradezu willkommen

Viele Finanzprofis aber, die mit dem Geld dieser Leute bei Banken und anderen Finanzhäusern arbeiten, interessiert der Vorsorge-Gedanke nicht. Sie bekommen am Jahresende einen Bonus, der oft den größten Teil ihres Einkommens ausmacht. Die einzelnen Anleger kennen sie nicht. Geld ist für sie anonym und wird in Milliarden bewegt. Das Risiko, etwas zu verlieren, steht aus ihrer Sicht nur dem Risiko entgegen, weniger Rendite als andere zu machen und damit den eigenen Bonus zu gefährden. Da der sich in der Regel aber immer nur auf ein Jahr bezieht, ist die Gefahr eines Krisenjahres überschaubar. Im schlimmsten Fall, siehe oben, setzen sie mit ihren Millionen eine Runde aus - und haben Dank gefallener Kurse danach wieder ordentlich Luft nach oben. Das ewige Auf und Ab der Finanzmärkte kann vielen daher kaum extrem genug sein, ein Crash ist geradezu willkommen. Denn die zwei oder gar dreistelligen Renditen der erfolgreichsten Händler werden nicht mehr mit dem Kauf und Verkauf von Aktien oder Anleihen gemacht, sondern mit Wetten auf deren Kursveränderungen. Die Faustregel dabei: Je stärker die Kurssprünge ausfallen, desto höher der Gewinn. Die Richtung der Kursbewegung spielt dabei kaum eine Rolle, denn diese Wettgeschäfte sind ein Nullsummenspiel: Man kann nur so viel gewinnen, wie ein anderer gleichzeitig verliert.

Damit haben sie keine Bedeutung für die reale Wirtschaft. Erst im "Minsky-Moment" greifen sie auf das echte Leben über und haben durch ihre enormen Hebel die Kraft, auch enormen Schaden anzurichten: Noch immer ist die Gefahr einer weltweiten Konjunkturabkühlung, einer globalen Kreditklemme und damit steigender Arbeitslosenzahlen nicht gebannt. Wenn sich die Finanzmärkte ständig langsam bergauf bewegen würden, wäre das für die Finanzprofis dagegen schlecht: In ruhigen Zeiten wird man kein Star. Wer so berühmt werden will wie "Goldfinger" oder Warren Spector, braucht Unruhe. Lieber drei starke Jahre und ein Einbruch als langweilig aufwärts. Das Ergebnis ist beunruhigend: Wir vertrauen unsere Altersvorsorge Menschen an, die äußerst kurzfristige Ziele verfolgen - und zwar ihre eigenen. Sie haben sich ein System von Wetten geschaffen, das eher dem Prinzip des Kartenspiels Schwarzer Peter entspricht: Wer zuletzt drin ist, hat verloren. Einige der Anlageprodukte mit Namen wie "Turbo-Optionsschein" oder "Subprime-Hypothekenkredit-Fonds" verschleiern Risiken gefährlich. Ein gut organisierter Finanzvertrieb, ebenfalls gesteuert über Boni und Jahresprovisionen, bringt diese Wetten an die normalen Anleger, die ihr Geld eigentlich nur arbeiten lassen wollen - und nicht verzocken. Kann man das all es verhindern? Auch hier hilft der gesunde Menschenverstand: Läuft etwas aus dem Ruder, muss es strenger kontrolliert werden. Lotterien werden in Deutschland ja auch staatlich reguliert und ordentlich besteuert.

Hoffentlich lesen auch "Goldfinger" und Spector die Thesen von Minsky

Beides würde helfen, stark verschleiernde Finanzinstrumente durchschaubarer, vor allem langsamer zu machen. Und es darf nicht sein, dass Normalbürger zu Verlierern von Finanzwetten werden, ohne von denen überhaupt zu wissen. Die rund 50 Millionen deutschen Sparkassenkunden erlebten das vorige Woche, als die Milliardenverluste der Sächsischen Landesbank mit USHypotheken bekannt wurden und der Deutsche Sparkassen- und Giroverband, die Dachorganisation der Sparkassen, 17,3 Milliarden Euro für eine Rettungsaktion herausrücken musste - Geld auch aus Gebühren der Kleinsparer. Am Wochenende dann wurde die Sachsen LB von der Landesbank Baden-Württemberg übernommen. Um solche Verluste zu verhindern, sollte einerseits der Eigenhandel der Geldinstitute mit spekulativen Wertpapieren eingeschränkt werden. Andererseits müssten auch die Regeln der Kreditvergabe deutlich strenger werden, damit Finanzprofis sich nicht mit von Kleinsparern geliehenem Geld verzocken können. Und nicht zuletzt müssten diese Finanzprofis mit ihren Einkommen stärker für ihre Geschäfte haften. Hoffentlich lesen auch "Goldfinger" und Spector die Thesen von Minsky.

Mitarbeit: Cornelia Fuchs, Karsten Lemm, Jan Christoph Wiechmann

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