Kommentar Nachbarschaftshilfe konkret: Warum Merz und Macron tauschen sollten

Präsident wird Kanzler – und umgekehrt. Zum Lachen? Emmanuel Macron und Friedrich Merz am Tag der Einheit in Saarbrücken 
Präsident wird Kanzler – und umgekehrt. Zum Lachen? Emmanuel Macron und Friedrich Merz am Tag der Einheit in Saarbrücken 
© Jean-Christophe Verhaegen/POOL AFP/dpa
Friedrich Merz als Président, Emmanuel Macron als Kanzler. So bekäme Deutschland endlich einen großen Redner und Frankreich einen gestählten Experten für Kompromisse.

Deutschland und Frankreich, quelle amitié! Was für eine Freundschaft! Seit 1963 haben mehr als zehn Millionen Jugendliche in einem Austauschprogramm das jeweils andere Land kennengelernt. Es gibt Künstlerstipendien, Studienförderung oder auch deutsche Fußballer, die in Frankreich ihr Geld verdienen und umgekehrt Franzosen, die in der Bundesliga kicken. Warum aber gibt es eigentlich kein Austauschprogramm für Regierende?

Ihr kriegt für einige Zeit unseren Kanzler, wir Euren Präsidenten. Pourquoi pas? Warum nicht? Nie könnte es nützlicher sein als dieser Tage.

Emmanuel Macron kann reden, Friedrich Merz kann Kompromisse

Deutschland hat eine einigermaßen stabile Regierung unter der Führung von Friedrich Merz, die sich Kompromiss für Kompromiss vorwärts hangelt, zwei Schritte vor, einen zurück, aber immerhin. Trotzdem ist die Stimmung im Land schlecht, Friedrich Merz ist unbeliebt wie nie zuvor, und dem Kanzler ist es auch mit seiner von großen Erwartungen begleiteten Rede zum Tag der Einheit und mehreren Talkshow-Auftritten nicht gelungen, sein Volk aufzurütteln und zu begeistern.

Frankreich hingegen hat überhaupt keine Regierung mehr, die Verweildauer der Premierminister schrumpft, das Land rutscht weiter in die Krise, die Schulden steigen, und die politischen Gräben werden immer tiefer. Dafür aber hat Frankreich einen Präsidenten, der großartige, mitreißende Reden halten kann. Wenn es sein muss, auch auf Deutsch.

Könnte man da nicht mal tauschen? Wäre es nicht zum Nutzen beider Länder, wenn Macron im Bundestag das große Wort führte und Merz in Paris Kompromisse schmiedete? 

Emmanuel Macron ist prädestiniert für ein deutsches Publikum. Seit Beginn seiner Präsidentschaft hat er immer wieder Reden gehalten, die hierzulande für besonderes Aufsehen sorgten. Angela Merkel musste sich jahrelang vorhalten lassen, auf Macrons großes Plädoyer für Europa 2017 an der Sorbonne-Universität nicht angemessen reagiert zu haben. 2024 sprach Macron im Bundestag zum Abschied vom verstorbenen Wolfgang Schäuble. Die FAZ schrieb von einer „fulminanten Rede“ und titelte über ihren Artikel: „Macron zeigt den Deutschen, was Ihnen fehlt.“ Und mal ehrlich: Auch am jüngsten Tag der Einheit in Saarbrücken war es nicht Friedrich Merz mit seinen, nun ja, Ausführungen zur Lage des Landes, der das Publikum inspirierte. Es war Macron mit seiner Rede zum Zustand der Demokratie, es war der französische Präsident mit seiner Mischung aus schonungsloser Selbstkritik und unermüdlicher Aufbruchbereitschaft.

Man stelle sich vor, Macron würde den Deutschen den Umbau ihres Sozialstaats anpreisen, die Reform des Bürgergeldes, die Rente bis 70. Das wäre jedenfalls ein Erlebnis.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wenn Macron rede, gehe er Risiken ein, schrieb Nils Minkmar, Saarländer mit deutschem und französischem Pass, vor einiger Zeit in der Süddeutschen Zeitung. „Er verkörpert dann nicht den Staat, der sich in wohl abgestimmten und eben oft narkotisierend langweiligen Abwägungen und Verlautbarungen äußert, sondern er handelt als politisches Subjekt und exponiert sich.“ Redend spaziere Macron mitten hinein in die dramatischsten Konflikte.

Genau das ist natürlich auch sein Problem. Denn sein eigenes Land hat Macron mit, besser gesagt: trotz vieler schöner Worte an den Rand des Abgrunds geführt. Er hat die Reformen nicht hinbekommen, die Frankreich braucht, aber zu viele ums Verrecken nicht wollen. Macron hat selber die Krise verschärft, als er plötzlich Neuwahlen ausrief, deren politischen Zweck niemand verstand, und nach denen Frankreich mit noch komplizierteren Mehrheitsverhältnissen aufwachte als je zuvor. 

"Kompromiss heißt in Frankreich, sich zu kompromittieren"

Jetzt erscheint Frankreich praktisch unregierbar. Die Fähigkeit zum politischen Ausgleich im Parlament ist völlig unterentwickelt. Seit Präsident Charles de Gaulle sei Frankreich auf klare Mehrheiten ausgerichtet gewesen, sagt Daniel Cohn-Bendit. Ein Lager hat die Mehrheit, dann wird durchregiert. Die Parteien wie die politische Öffentlichkeit hätten nie gelernt, so Cohn-Bendit, wie Verhandlungen für ein gemeinsames Regierungsprogramm geführt werden. Solange die Franzosen nicht verstünden, dass ein Kompromiss nicht bedeute, sich zu kompromittieren, sondern Handlungsfähigkeit herzustellen, werde das politische Drama anhalten, so der deutsch-französische Grünen-Politiker im Deutschlandfunk.

Zwar kennen die Franzosen die sogenannte Cohabitation, also das Miteinander eines Präsidenten von der einen Partei mit einer Mehrheit in der Nationalversammlung aus einem anderen Lager. Doch die letzte erzwungene Zweisamkeit dieser Art erlebte der konservative Präsident Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin zwischen 1997 und 2002. Sie ging als „Blocage“ (Blockade) in die Geschichte ein. Die Konrad-Adenauer-Stiftung urteilte seinerzeit über die Cohabitation: „Sie ist dem Land nicht gut bekommen.“

Friedrich Merz wäre der ideale Mann, um die Franzosen Kompromissbereitschaft zu lehren. Er hat Beweglichkeit bewiesen und mit SPD und Grünen noch vor einer Regierungsbildung die Schuldenbremse gelöst. Er schließt Vereinbarungen gegen seine Überzeugung, aber für den Koalitionsfrieden, wirbt in den eigenen Reihen um Verständnis für den sensiblen Vizekanzler von der SPD und erklärt inzwischen überall, dass bei Reformen das Wichtigste sei, alle Bürger mitzunehmen. Friedrich Merz, der alles anders machen wollte, regiert inzwischen so konsensorientiert wie einst Angela Merkel. Und genau so einen brauchen doch die Franzosen jetzt  – n’est-ce pas?

Ein letzter Vorteil an diesem Tausch bestünde darin, dass Macron und Merz im jeweils anderen Land Lob und Preis genau dafür erwarten könnten, was Ihnen zuhause dauernd Kritik einbringt. Viele Franzosen können die schönen Reden ihres Präsidenten nicht mehr hören, oder wie es Nils Minkmar formulierte: „Es gibt genug Französinnen und Franzosen, die mit den Augen rollen oder Würgereflexe mimen, wenn Macron nur den Mund aufmacht.“ Friedrich Merz wiederum könnte nicht nur seinen verheerenden Umfragewerten entgehen, sondern auch den Nörglern in den eigenen Reihen, die von ihm klare Kante und Durchregieren erwarteten und mittlerweile ihren Anhängern mehrere gebrochene Wahlversprechen erläutern müssen.

Ein Tausch an der politischen Spitze würde die deutsch-französische Freundschaft somit auf eine ganz neue, aber äußerst lebensnahe Stufe heben: praktische Nachbarschaftshilfe zum gegenseitigen Vorteil. On y va? Auf geht’s?

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