Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab der Bielefelder Apotheker Doktor August Oetker die Herstellung von Warzentinkturen und Fußsalben auf, um sich ganz auf ein neues Produkt zu konzentrieren: Backpulver in kleinen Tütchen. "Meist genügt eine gute Idee, und der Mann ist gemacht", pflegte der streng gescheitelte Herr Doktor mit dem Zwirbelbart zu sagen.
Die Backpulvertütchen waren eine sehr gute Idee. Wenn heute, mehr als 110 Jahre später, seine Urenkelin Rosely Schweizer ihren Geburtsnamen Oetker nennt, "echot mein Gegenüber in neun von zehn Fällen Backpulver oder Pudding".
Dabei steht Oetker für viel mehr als nur für pfiffige Kochhilfen. Der Clan verdient mit Schiffen mehr Geld als mit Nahrungsmitteln, betreibt Luxushotels, kauft Biermarken wie andere Leute Bierkästen, besitzt eine eigene Bank und dazu gleich eine eigene Versicherung. Außerdem ein Chemiewerk und einen Verlag, der mit seinen Kochbüchern Auflagen erreicht, die in Deutschland nur von der Bibel übertroffen werden.
Buchtipp
Ab 16. September im Handel:
Rüdiger Jungbluth, "Die Oetkers. Geschäfte und Geheimnisse der bekanntesten Wirtschaftsdynastie Deutschlands", Campus, 406 Seiten, 24,90 Euro
Wenn die Oetkers auf ihre Erfolge anstoßen wollen, können sie zwischen einem halben Dutzend Sektsorten aus eigenen Kellereien wählen. Allein die Bielefelder Oetker-Gruppe, zu der längst nicht alle Unternehmen der verzweigten Sippe zählen, besteht aus über 300 Firmen. Auf 7,5 Milliarden Dollar schätzte das Magazin "Forbes" das Vermögen der Ostwestfalen; auf der Liste der reichsten Menschen der Welt kletterten sie bis auf Platz 50.
Wohl keine Familie in Deutschland hat so viel Geld ausgegeben, um ihren Namen mit immer neuen Werbekampagnen bekannt zu machen. Und kaum eine ist so zurückhaltend, wenn es darum geht zu erklären, was sich hinter diesem Namen verbirgt. Die Geschichte der Familie, ihre Geheimnisse und ihren Aufstieg beschreibt der Wirtschaftsjournalist Rüdiger Jungbluth in einem neuen Buch (siehe Hinweis).
Schluss mit den Legenden
Es räumt mit sorgfältig gepflegten Legenden auf, die die Backpulver-Dynastie noch heute im Internet verbreitet. August Oetker, heißt es auf der Website oetker.de, habe bis spät in die Nacht in einem Hinterzimmer mit Apothekerwaage, Mörser und Pülverchen experimentiert, "und was er da in hartnäckiger Forschungsarbeit entwickelte, revolutionierte das Backen: das Backpulver Backin - genau die richtige Menge für ein Pfund Mehl!"
Der letzte Halbsatz enthält genau die Menge Wahrheit, ohne die eine Legende nicht aufgeht. Denn August Oetker hat mitnichten das Backen revolutioniert, sondern das Marketing von Backpulver. Seine Verdienste um die Entwicklung des Treibmittels, das für die Entstehung der nötigen Gase beim Backen sorgt, waren "auf ein Minimum beschränkt", wie es in einer Forschungsarbeit für die Universität Bielefeld heißt.
Der knapp 30-jährige Doktor der Botanik war in der Backstube des Vaters aufgewachsen, hatte zwei als Unternehmer sehr erfolgreiche Onkel. Denen wollte er nacheifern; um sie zu übertreffen, "noch etwas Besonderes leisten". Von zwei amerikanischen Vettern seines Vaters wusste August Oetker, wie gut modernes Backpulver auf dem US-Markt ankam; vielleicht schickten die Verwandten sogar das Rezept nach Deutschland, wie deren Großnichte Francis Dohme Cockey 1987 behauptete.
Das Geheimnis lag in der Portionierung - und im Marketing
Statt in 250-Gramm-Dosen, wie in Amerika üblich, verkaufte er sein Pulver schon bald in kleinen Tütchen zu 20 Gramm. Das war nun wirklich neu. Jedes Tütchen reichte für ein Pfund Mehl. Der Preis von zehn Pfennig erschien niedrig, obwohl die Gewinnmarge beträchtlich war. Nicht zuletzt stieg durch die genaue Dosierung - selbst die Schwiegermutter half anfangs beim Nachmessen - die Chance, dass der Kuchen gelang. Ein unermesslicher Vorteil. Noch heute streicht die Oetker-Werbung die "Gelinggarantie" ihrer Produkte heraus.
Vom Backpulver über den Pudding bis zu moderner Tiefkühlkost scheint das nicht nur für den Erfolg des Bäckers, sondern auch für den des Herstellers zu gelten. Durch alle Krisen des 20. Jahrhunderts hindurch wuchs das Imperium immer weiter: Mit trickreichem Vabanque-Spiel in der Inflationszeit Anfang der zwanziger Jahre, mit viel opportunistischer Anpassung und ein paar schmutzigen Geschäften im Nationalsozialismus, mit Steuertricks in der Bundesrepublik bis hin zu raffinierten Firmenkonstruktionen im 21. Jahrhundert.
Überschattet wurde der immerwährende Erfolg durch private Tragödien. Im Krieg gefallene Erben, durch Bomben getötete Töchter, schließlich die Entführung des Oetker-Sprösslings Richard in den siebziger Jahren. Jungbluth schlägt in seinem Buch den Bogen von der Kaiserzeit bis heute - und lässt dabei nicht nur die Saga einer großen Familie lebendig werden, sondern ein Jahrhundert deutscher Geschichte.
August Oetker, der Gründer, sah sich schon bald nicht mehr als Apotheker, sondern als Industrieller. Ab 1900 gebot er über eine eigene Fabrik. 1800 Quadratmeter Nutzfläche auf drei Etagen, Versuchsküche inklusive. "Wenn dieses Haus voll ist, dann bin ich zufrieden", sagte er nach dem Einzug. Er war es natürlich nicht.
"Jede Minute muss dir Zinsen tragen"
Als Mensch war er der Prototyp des Patriarchen. Als Unternehmer stets auf der Suche nach dem Fortschritt. Kein Zufall, dass der erste deutsche Werbetrickfilm zeigt, wie ein Napfkuchen aufgeht, nachdem Dr.-Oetker-Pulver unter den Teig gerührt wurde. "Benutze jede Minute!", predigte Oetker. "Die Zeit ist dein Kapital; jede Minute muss dir Zinsen tragen." Er lebte den Geist der Epoche. Auf zur Weltherrschaft.
Der Erste Weltkrieg, im August 1914 ausgebrochen, ließ sich fabelhaft an - für das Reich und dessen Backhelfer. Niemals wurde mehr Kuchen gebacken als zu Weihnachten 1914. "Eine Fressorgie", registrierte der Historiker Michael Salewski. Doch Vorräte und Siegeszuversicht schwanden bald. Oetker klagte, "dass die Deutschen zu dumm sind; sie glauben zu viel und denken zu wenig". Seine Geschäfte gingen trotzdem prächtig. 1918 verkaufte er 300 Millionen Päckchen. "Die Hausfrau hat im Ersten Weltkrieg erkannt, welchen Wert Backpulver hat", hieß es später in einer Jubiläumsschrift. "Seit jener Zeit ist unser Backin zum Kücheninstrument schlechthin geworden."
Erbe vor dem Ruin
Aller geschäftlicher Erfolg half dem alten Oetker nicht über den Tod seines einzigen Sohnes Rudolf hinweg, der in Verdun gefallen war. Bevor der Alte dann 1918 starb, verfügte er, dass sein Reich für den Enkel Rudolf-August, den heutigen Patriarchen, bewahrt werden solle. Nur wenige Jahre später stand der Clan vor dem Ruin. Die Nachkriegszeit hatte mit Rekordverkäufen begonnen, knapp waren damals nur die Rohstoffe. "Schickt, was ihr könnt", hatte die Firma ihren Hauptlieferanten aufgefordert, die Chemische Fabrik Goldenberg. Dann blieben die Bestellungen aus, die Lager waren voll - und die Lieferanten forderten Geld. Bald drohten sie, Kredite fällig zu stellen, falls ihnen nicht eine Mehrheitsbeteiligung am Oetker-Reich überschrieben werde.
Da trat Richard Kaselowsky auf den Plan, der kurz zuvor Rudolf Oetkers Witwe Ida geheiratet hatte. Er handelte mit den Gläubigern einen Deal aus, der letztlich eine Wette war: Die Firmenleitung versprach, enorme Summen zu zahlen - und hoffte darauf, dass die galoppierende Inflation die Last milderte. Kaselowskys Kalkül ging auf. 20 Jahre später sagte er auf einer Festveranstaltung unter Hakenkreuzfahnen, man habe damals die Unabhängigkeit der Firma verteidigen müssen "gegenüber jüdischen Rohstofflieferanten, die es verstanden hatten, sich während des Krieges Einfluss zu verschaffen".
Man ging mit der Zeit
Der robuste Kaselowsky verstand es, sich den Zeitumständen anzupassen. In den zwanziger Jahren setzte er ganz auf Expansion. Zweigwerke entstanden, in Bielefeld wurde ausgebaut. Schnell stieß die Produktion an natürliche Grenzen: Oetkers Marktanteil bei Backpulver betrug bereits 95 Prozent. Paul Sackewitz, der neue Mann für die Werbung, wusste, dass der Absatz nur gesteigert werden konnte, wenn Oetker die Frauen dazu animierte, öfter zu backen. Er schickte Propagandisten durch das Land, die in Kneipen Vorträge hielten und Kuchen verteilten - wer in seinem Stück eine Mandel entdeckte, dem wurde ein Buch geschenkt.
Mit pädagogischer Strenge kurbelten die Oetker-Leute den Puddingabsatz an. In Anzeigen fragten sie deutsche Mütter: "Gibst Du Deinem Kinde auch genügend Oetker-Pudding, damit es gedeiht?" Als die Nazis 1933 an die Macht gelangten, witterte Kaselowsky neue Chancen. Am 1. Mai desselben Jahres trat er der NSDAP bei. Es sollte nicht lange dauern, bis er zu einem exklusiven Zirkel von Unterstützern der Bewegung gehörte: dem Freundeskreis des SS-Reichsführers Heinrich Himmler, einem lockeren Zusammenschluss bedeutender Wirtschaftsleute.
"Ganz gewöhnliche Opportunisten"
Eine Mitgliedsliste von 1939 liest sich wie ein Who's Who der deutschen Wirtschaft. Nur 36 Mitglieder zählte der Elitezirkel, darunter Kaselowsky, der seit dem Tod von Louis Oetker, dem Bruder des Gründers, im Jahr 1933 alleiniger Chef des Familienunternehmens war. Die Herren des Freundeskreises besuchten Himmler während des Krieges in dessen Feldquartier in Ostpreußen; sie trafen Verbrecher und Massenmörder zum kameradschaftlichen Austausch. Dabei waren sie keineswegs alle überzeugte Nazis. Der Historiker Reinhard Vogelsang charakterisierte den Verein so: "Ein Club tüchtiger Geschäftsleute und begabter Bürokraten, begeisterter und kritischer Nationalsozialisten, Widerstands-Sympathisanten und SS-Mörder, vor allem aber ganz gewöhnlicher Opportunisten."
Der Firma Dr. A. Oetker ging es im Nationalsozialismus ausgesprochen gut. Sie bekam Staatsaufträge. Und auch in der Zeit der Lebensmittelmarken blieb Puddingpulver Teil des Ernährungsplans. Die Druckerei Gundlach, die Oetker seit 1925 mehrheitlich gehörte, druckte Lebensmittelmarken und Verpackungen für Soldatenverpflegung. Zumindest bei Oetker-Beteiligungsfirmen trugen Zwangsarbeiter zu niedrigen Lohnkosten bei: Gundlach beschäftigte sie ebenso wie die Adlernähmaschinen-Werke, an denen Oetker Anteile besaß. Aber im Zentrum stand noch die Nahrungsmittelproduktion.
Der Kochlöffel als Waffe
Früh versuchten die Nationalsozialisten dafür zu sorgen, dass Deutschland sich selbst ernähren konnte. "Wenn auch unsere Waffe auf diesem Gebiet nur der Kochlöffel ist, so soll seine Durchschlagskraft nicht geringer sein als die anderer Waffen", mahnte Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink schon 1937. Da hatte Oetker bereits 700.000 Exemplare der Fibel "Fett sparen und doch lecker backen" drucken lassen. Im Krieg folgten dann "Zeitgemäße Rezepte" - diesmal in einer Auflage von zehn Millionen. Oetker war ein "Nationalsozialistischer Musterbetrieb". Aus der Hand Adolf Hitlers nahm Kaselowsky die "Goldene Fahne" entgegen.
Pudding und Backpulver schienen wahrhaft krisenfeste Produkte. Doch Kaselowsky machte sich daran, in neue Geschäftsfelder vorzustoßen. Die Firma Oetker stieg bei der traditionsreichen Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft AG ein. Die war zwar von der Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelt, machte aber bald gute Geschäfte mit dem NS-Freizeitableger "Kraft durch Freude" und schiffte zudem Bananen aus Südamerika ins Dritte Reich. Bei Kriegsbeginn 1939 verfügte die Reederei über 52 Schiffe mit zusammen fast 400.000 Bruttoregistertonnen. Damit war aus der kleinen Apotheke in Bielefeld endgültig ein Konzern hervorgegangen. Die Oetkers gehörten zur Elite der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft.
Forschungsziel: Nahrung aus Industrieabfall
Daran sollten auch Richard Kaselowskys Geschäfte mit der SS nichts ändern. Gemeinsam mit der Himmler-Truppe und einer Hamburger Firma beteiligte er sich 1943 an einem Unternehmen zur Herstellung künstlicher Lebensmittel, der Hunsa-Forschungs-GmbH. Ziel der SS war, aus industriellen Abfällen Nahrungsmittel herzustellen. Die Nazis legten Wert darauf, dass die neuen Produkte vor der Massenfertigung geprüft wurden - durch Menschenversuche mit KZ-Häftlingen. Ernst Martin, ein Häftling des KZ Mauthausen, in dem er als Schreiber des SS-Arztes arbeitete, erinnerte sich später bei einem Prozess gegen NS-Ärzte an eine so genannte "Eiweißwurst". Sie sei nach seinen Nachforschungen aus "den Abfällen von Abwässern aus der Zellulose-Aufschließung mit Zusatz von Leberparfümierung" hergestellt worden. Viele Häftlinge seien nach ihrem Verzehr gestorben.
Wie im Ersten Weltkrieg konnten im Zweiten die Kriegswirren die Geschäfte der Oetkers nicht wirklich stören. Wieder traf der Krieg nicht die Firma, sondern die Familie. Am 30. September 1944 griffen US-Bomber Bielefeld an. Im Keller ihrer Villa Am Johannisberg 10 suchten Ida und Richard Kaselowsky mit ihren Töchtern Ilse und Ingeborg Schutz. Sie starben, als das Haus einen Treffer erhielt.
Das Andenken an den toten Kaselowsky sollte über Jahrzehnte zu heftigen Konflikten führen. Die Familie wollte seiner gedenken, indem sie ausgerechnet 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen, ein Kunsthaus nach ihm benennen ließ. 30 Jahre und viele Kämpfe später wurde der Name von der rot-grünen Mehrheit im Bielefelder Stadtrat geändert. Kurz darauf fuhr ein Lkw an der Kunsthalle vor und holte die Leihgaben der Oetkers ab. Rudolf-August Oetker, heute noch Patron des Bielefelder Familienzweiges, hatte ihn geschickt. Er schaffte es nie, sich der NS-Vergangenheit des Stiefvaters wirklich zu stellen. Geschweige denn seiner eigenen.
Zum Patriarchen geboren
Von Geburt an war Rudolf-August dazu vorgesehen, die Oetker-Firmen zu führen. Nach einer Banklehre stieg er in die Firma ein, wo er, wie eine Firmenschrift später betont, in jungen Jahren "die Sackkarre führte wie jeder andere". Privat lebte er etwas exklusiver. An der Hamburger Außenalster bewohnte er ein großes Haus. Das riesige Nachbargrundstück gehörte einer jüdischen Familie, die es 1940 verkaufen musste. Oetker zahlte 45.500 Reichsmark. "Eine krasse Form der Bereicherung", urteilt der Historiker Frank Bajohr, Verfasser des Standardwerks über "Arisierung in Hamburg".
Der Nachwuchsmann, so schien es, kam blendend zurecht. Bei Kriegsbeginn 1939 musste der 23-Jährige nicht einrücken. Er lernte Konzernherr, den Krieg führten zunächst andere. Im März 1942 ging er dann doch zur Waffen-SS, die an der Seite der Wehrmacht kämpfte. Über die Umstände hat sich Oetker nie öffentlich geäußert. Erst Jahrzehnte nach dem Krieg, als er in Plauderlaune ein Interview gab, kam eher zufällig heraus, dass er am Russlandfeldzug teilgenommen hatte.
Nach der Währungsreform rollte die Fresswelle
In späteren Jahren erweckte Rudolf-August gern den Eindruck, er habe nach dem Krieg nichts übernommen außer einem Haufen Trümmer und einem guten Namen. Realistischer erscheint eine Bestandsaufnahme in einer Oetker-Schrift aus dem Jahr 1966: "Die Firma Oetker, obwohl durch Luftangriffe in Bielefeld und Hamburg stark mitgenommen, stand dennoch schon bald wieder mit einer Maschinenkapazität bereit, die ausgereicht hätte, um ganz Deutschland mit Back- und Puddingpulver zu versorgen."
Die Fresswelle ließ nach dem Krieg zwar noch einige Jahre auf sich warten, rollte aber dafür nach der Währungsreform 1948 umso heftiger. Für Oetker war es eine einmalige Chance. 1950 produzierte das Unternehmen 400 Millionen Päckchen Backpulver und 350 Millionen Päckchen Puddingpulver - ein historischer Rekord, der nie wieder erreicht wurde. Die Nachfrage war unersättlich. Die Gewinne stiegen unaufhörlich.
Rudolf-August Oetker stand vor dem Lieblingsproblem aller Unternehmer: Wohin mit den Gewinnen, damit der Staat sie nicht bekommt? Wie sein Stiefvater in den dreißiger Jahren setzte er auf die Schifffahrt. Wer zwischen 1950 und 1954 in die wachsende Handelsflotte investierte, erhielt enorme Steuervergünstigungen. Der Konzernchef expandierte auch in neue Geschäftsfelder, so beteiligte er sich schon 1949 an der Privatbank Lampe. Wenige Jahre später gründete er die Versicherung Condor.
Der "Puddingprinz" war kein mondäner Held
Doch trotz aller Erfolge wurde über den "Puddingprinzen" in der Hamburger Gesellschaft gespottet, er würde seine Schiffe am liebsten mit Backpulver taufen. "Wegen seiner Sparsamkeit und seines teilweise recht ungehobelten Benehmens eckte er häufig an", berichtet die Frau seines damaligen Architekten, Ruth Pinnau. Als Unternehmer drehte er ein großes Rad. Privat schaltete er das Licht in ungenutzten Räumen aus, um Strom zu sparen. Seine Schuhe trug er 20 Jahre. Seine Anzüge so lange, wie es eben vertretbar erschien.
Mondän wurde das Leben des Rudolf-August Oetker erst, als er Anfang der sechziger Jahre in Hamburg die 18 Jahre jüngere Marianne von Malaisé traf. Da war er bereits zweimal geschieden, Vater von fünf Kindern und seit vielen Jahren solo. Marianne, die ihre Freunde Maja nannten, stammte aus feinster Familie. Pinnau berichtete, am Anfang sei es Oetker schwer gefallen, "einen dem Stand seiner aparten jungen Frau angemessenen Lebensstil zu pflegen". Von seiner Frau ausgesuchte Kleider habe er zurückgehen lassen, da sie ihm zu teuer waren. Auch für Maja war es zunächst nicht leicht. "Stiefmutter sein ist eine tragische Rolle", sagte sie einmal. "Auch für die Stiefkinder. Das braucht Zeit und Geduld." Die Oetkers scheinen es geschafft zu haben. Öffentliche Skandale überließen sie anderen Familien.
Nur einmal machte ihr Name außerhalb der Wirtschaftsseiten Schlagzeilen - als 1976 in München der 25-jährige Richard Oetker, eines von Majas Stiefkindern, entführt wurde. Der Entführer Dieter Zlof steckte den großgewachsenen Mann in eine nur 1,60 Meter lange Kiste. "Wie ein Embryo im Mutterleib" habe er sich darin krümmen müssen. Zlof hatte aus der Kiste eine mörderische Apparatur gebaut. Sie versetzte dem Opfer einen Stromschlag, wenn ein eingebautes Mikrofon Laute registrierte.
Gezeichnet fürs Leben
Am Morgen des zweiten Entführungstages geschah die Katastrophe. Durch eine Unachtsamkeit löste Zlof den Stromschlag aus. Oetkers Körper schlug gegen die Wand der Kiste; beide Oberschenkelhalsknochen und zwei Brustwirbel brachen. Als er nach Zahlung von 21 Millionen Mark frei kam, war er für sein Leben gezeichnet. Auf Krücken erschien er zu dem spektakulären Indizienprozess im Münchner Landgericht, in dem Zlof, der seine Unschuld beteuerte, zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Erst nach der Haftentlassung, als Zlof die inzwischen angemoderte Beute verwerten wollte, verschwanden die letzten Zweifel an seiner Schuld. Fast 20 Jahre nach der Tat gestand Zlof.
Richard Oetkers Haltung im Gerichtssaal nötigte Beobachtern großen Respekt ab. Noch viel später, fast ein Vierteljahrhundert nach der Entführung, waren die Folgen ihm nicht nur körperlich anzumerken. Der Schauspieler Sebastian Koch, der Oetker in einem Film über den Fall spielte, berichtete in einem Interview über ein Treffen mit ihm: "Bei dem Wort "Kiste" hatte ich den Eindruck, da verändert sich etwas in ihm. Ich konnte spüren, dass diese Kiste, sein Gefängnis, für ihn ein magischer Ort war - ein Ort des Todes."
Schluss mit dem "Tante-Emma-Laden"
Kurz nach der Entführung machte sich Rudolf-August Oetker, inzwischen 60 Jahre alt, daran, seine Nachfolge zu regeln. Sein Sohn August, als Kronprinz geboren, lebte in Amerika, und der Alte zweifelte, ob er der richtige Mann wäre. Aber der einzige geeignete Ersatzmann aus der Familie - Arend Oetker, ein Neffe des Patriarchen - sagte ab. Rudolf-August sah sich gezwungen, nach New York zu fahren und August heim nach Bielefeld zu holen.
Als der in die Firma kam, wurde sie noch immer im Stil eines "Tante-Emma-Ladens" geführt, wie der SPD-Politiker Friedhelm Farthmann spottete. Rudolf-August Oetker war Einzelunternehmer. Er hatte keinen Aufsichtsrat, keine Mitbestimmung, Umsatz und Gewinn blieben sein Geheimnis. Er war der alleinige Boss. Ein "patriarchalisches Fossil", schimpften die Gewerkschaften. Erst die Übergabe an die nächste Generation zwang Oetker dazu, dem Unternehmen 1981 eine andere Rechtsform zu geben. Aus dem Stammhaus wurde eine Holding.
August trennte sich energischer als sein Vater von unprofitablen Unternehmungen wie der Hochseefischerei. Andere Beteiligungen baute er aus. So wurde die Oetker-Gruppe duch den Kauf von Brau und Brunnen zum größten Bierbrauer Deutschlands. Weitere Akquisitionen werden vorbereitet. August Oetker hat ein Auge auf Deutschlands größte Schifffahrtsgesellschaft Hapag-Lloyd geworfen. "Die Hapag und wir wären das Traumgespann", sagte der Konzernchef, dessen Reederei Hamburg Süd etwa 150 Schiffe im Einsatz hat. 20.000 Menschen arbeiten bereits jetzt für die Unternehmensgruppe, die über fünf Milliarden Euro umsetzt.
Kunst und Rampenlicht
Der alte Rudolf-August, dem Tagesgeschäft entrückt, sammelt unterdessen Kunst - und hat, wie es bei ihm nicht anders zu erwarten ist, gleich eine renommierte Kunsthandlung gekauft, die Galerie Colnaghi in London. Seine Frau, seine älteste Tochter und eine seiner Schwiegertöchter zog es in die Politik. Maja brachte es in Bielefeld zeitweise zur Zweiten Bürgermeisterin. Keiner aus der Familie aber drängte so ins Rampenlicht wie Arend Oetker, der Neffe von Richard-August. Ein Multifunktionär mit Dutzenden Ehrenämtern. Zurückhaltend wird er nur, wenn es um seine Geschäfte geht.
Aber das gehört zur Familientradition. Ihre Produkte und ihren Namen haben die Oetkers genial vermarktet. Sich selbst in gewisser Weise auch - indem sie sich kleiner gemacht haben, als sie es sind. "Backpulver oder Pudding" sei das typische Echo auf ihren Geburtsnamen, sagt Rosely Schweizer. Die Oetkers scheinen damit ganz zufrieden zu sein.