Herr Atzberger, noch immer ist unklar, wann und wie der Einzelhandel wieder öffnen kann. In Aussicht stehen lokale Öffnungen, sofern in bestimmten Gebieten eine stabile Inzidenz unter 35 erreicht ist? Erscheint Ihnen das praktikabel?
Wie groß diese lokalen Einheiten sind, in denen die Inzidenz unter 35 erreicht werden muss, ist ja noch unklar. Wenn das auf die Landkreise heruntergebrochen wird, könnten einzelne Kreise leicht zur Shopping-Destination für die Umgebung werden. So einen Shopping-Tourismus müssen wir vermeiden, weil wir sonst Ansammlungen von Menschen bekommen, die wir so nicht haben wollen.
Also die Läden nicht zu kleinteilig öffnen?
Kleinteilige Öffnungen erscheinen mir sehr problematisch, wenngleich für den einzelnen Händler schwer nachzuvollziehen ist, warum er geschlossen bleiben muss, wenn die Inzidenz bei ihm niedrig ist. Aber je kleiner die Landkreise sind, die öffnen, desto schneller droht ihnen eine Überbelastung. Wenn in Köln ein paar Tausend Menschen aus Bonn rüberkommen, verteilt sich das noch ganz gut in der Innenstadt, aber wenn beispielsweise alle Hannoveraner nach Minden zum Shoppen fahren, wird es schwierig.
Wären Öffnungen auf Ebene der Bundesländer ein Kompromiss?
Das wäre wahrscheinlich ein vernünftiger Kompromiss. Man hätte dann zwar auch da an den Rändern der Bundesländer Shopping-Tourismus-Effekte, aber die wären wahrscheinlich besser zu verdauen, als wenn man sehr kleinteilig wird.
Können die Händler denn selbst noch mehr tun, um Ansteckungen zu verhindern?
Durch Zugangsbeschränkungen und Hygienemaßnahmen kann man die Geschäfte an sich relativ sicher gestalten. Da hat der Handel schon sehr viele Maßnahmen ergriffen, mit Abstandsmarkierungen auf dem Boden, Plexiglasscheiben, kontaktlosen Bezahlmöglichkeiten, Maskenpflicht herrscht ja sowieso. Die Problematik liegt weniger in den Geschäften als vielmehr drum herum. Da können sich lange Schlangen bilden, wenn nicht alle reindürfen, es kommt zu Ansammlungen auf Parkplätzen oder Getümmel bei der Anfahrt mit Bus und Bahn. Das sind Probleme, die der einzelne Händler nicht lösen kann, weil sie außerhalb seiner Räumlichkeiten liegen. Und es ist ein großer Frustfaktor bei den Händlern, weil die eigenen Möglichkeiten, Sicherheit zu schaffen, eigentlich ausgeschöpft sind.
Welche Händler leiden am meisten unter den Schließungen?
Der Einzelhandel insgesamt – vom Lebensmittelhandel abgesehen – leidet sehr unter dem Lockdown. Besonders schwer aber trifft es den Textil- und Modehandel. Dort arbeitet man mit Saisonware, die jetzt nicht abverkauft werden kann. Das sind Umsätze, die nicht nachzuholen sind, weil die Ware sozusagen "verdirbt". Der Textil- und Modehandel hat schon im vergangenen Jahr ein Minus von 25 Prozent beim Umsatz gehabt. Und das alles in einer Situation, in der der stationäre Handel ohnehin unter Druck durch die Onlinekonkurrenz steht.
Werden viele Läden gar nicht mehr aufmachen, sondern gleich ganz eingehen?
Es wird sicherlich Läden geben, die nicht wieder öffnen, weil ihnen die Liquidität ausgegangen ist. Andererseits brennen viele Händler darauf, wieder ihren Geschäften nachgehen zu können. Mittel- und langfristig stehen vor allem die Modehändler vor großen Herausforderungen. H&M und Zara haben schon in den letzten drei, vier Jahren mehr Schließungen als Neueröffnungen gehabt, weil das Geschäft ins Internet abwandert. Das verstärkt sich durch die Corona-Krise noch.
Droht das vielzitierte Sterben der Fußgängerzonen?
Fest steht: Das durch Modeläden geprägte Bild der Einkaufsstraßen und Shopping Center wird sich dramatisch verändern. Wir gehen davon aus, dass 2030 die Hälfte des Mode-Umsatzes online gemacht wird, der stationäre Handel verliert also einige Milliarden Euro Umsatz. Das wird er nur auffangen, indem er die Flächen reduziert, das heißt kleinere Geschäfte und weniger Geschäfte.
Und wer füllt diese Lücken?
Wir erwarten, dass die Mieten in den Innenstädten deutlich nachgeben werden. Wir haben dort im Moment sehr hohe Mieten, die oftmals nur große Filialisten zahlen können. Die Vermieter haben sich daran gewöhnt, seit den 70er Jahren jedes Jahr höhere Mieten zu erhalten, weil die Innenstadt so gefragt war. Und hier haben wir jetzt einen Bruch. Wenn die Mieten fallen, können diese Standorte durchaus für Händler jenseits des Textilhandels interessant werden. Es könnten wieder mehr Lebensmittelanbieter in die Innenstädte kommen, Möbelhändler kleinere Filialen aufmachen, auch Onlinehändler suchen Standorte, um zusätzlich stationär aufzutreten. Da gibt es eine Reihe von interessanten Mietern, die da hinkönnen.
Das wäre ein Wandel statt ein Sterben der Innenstädte. Gibt es auch ein Negativ-Szenario?
Das Negativ-Szenario wäre, dass Vermieter die Immobilien lieber erstmal leer stehen lassen, als mit den Mieten runterzugehen. Wenn dieser Umbruch zu lange dauert, lernt der Kunde, dass er in der Stadt nichts mehr bekommt und geht zum Einkaufen auch nicht mehr hin.