Zehn Seiten, die für Kontroverse sorgen: Eine Arbeitsgruppe der privaten Krankenversicherer hat ein Papier entworfen, das die Branche grundsätzlich in Frage stellt. Am 10. Juli ist der Showdown.
Dann trifft sich das Präsidium des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft in Berlin. Zu den Mitgliedern gehören bekannte Manager wie Nikolaus von Bomhard, Chef der Münchener Rück, und Gerhard Rupprecht, in gleicher Position bei der Allianz Deutschland. Ein Tagesordnungspunkt: Die Fortschritte der Arbeitsgruppe "Soziale Sicherung 2020".
Diese Arbeitsgruppe unter Leitung des 43-jährigen Axa-Vorstands Heinz-Peter Roß hat ein Papier vorgelegt, das durch eine große Lücke auffällt. Die zehn Seiten, die sich mit der Zukunft der privaten Krankenversicherung (PKV) befassen, wurden nach Protesten von Vertretern des PKV-Verbands entfernt. Auf dem Deckblatt heißt es: "Im Ergebnis war es auch nach längeren Beratungen nicht möglich, sich in der Projektgruppe in dem aktuellen politischen Umfeld auf eine konsistente Positionierung zur Krankenversicherung zu verständigen." Und weiter: "Sie (die Ausführungen) wurden daher im Ergebnis aus dem Papier herausgenommen."
Aus dem Dokument
Versicherungspflicht "Jeder Bürger muss daher in der Krankenversicherung zumindest über einen Grundschutz verfügen beziehungsweise diesen ohne finanzielle Überforderung erlangen können. Um auszuschließen, dass die Garantie eines Grundschutzes opportunistisch genutzt werden kann, also erst dann eine Versicherung nachgefragt wird, wenn bereits konkrete Behandlungen anstehen oder absehbar sind, ist eine Pflicht zur Versicherung im Hinblick auf den grundlegenden Schutzumfang notwendig."
Grundschutz
"Gleichzeitig sind alle Krankenversicherer aber verpflichtet, auch ein Krankenversicherungsprodukt anzubieten, das genau den politisch festgelegten Grundschutz abdeckt ('Grundschutztarif'). Damit wird ein grundlegender Krankenversicherungsschutz für jeden sichergestellt. Die Prämien im Grundschutztarif werden unabhängig vom Gesundheitszustand des Antragstellers festgelegt, und eine Ablehnung durch den Versicherer ist nicht möglich. Auch im Bereich des Grundschutzes stehen die Versicherer im Wettbewerb. Allerdings ist hier ein unternehmensübergreifender Risikoausgleich vorzusehen, um der unterschiedlichen Risikostruktur in den Versichertenkollektiven des Grundschutztarifs Rechnung zu tragen."
Einkommensunabhängig
"Im Rahmen dieses langfristigen Zukunftsmodells kommt es für die heute gesetzlich Krankenversicherten zu einer Abkehr von den bisher einkommensabhängigen Beiträgen."
Umverteilung
"Gesellschaftlich erwünschte Umverteilung zwischen hohen und niedrigen Einkommen im Hinblick auf die Krankheitskosten werden in Zukunft nicht mehr über das Krankenversicherungssystem, sondern - ordnungspolitisch korrekt - über das Steuer-Transfer-System durchgeführt. Analog zum Verfahren in der Pflegeversicherung kann dies in Form von Zuschüssen zu den Beiträgen erfolgen, wenn eine einkommensbezogene Belastungsgrenze erreicht wird."
Kinder
"Der Krankenversicherungsschutz für Kinder ist ebenso wie in der Pflegeversicherung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe durch Steuermittel zu finanzieren."
Aus einem Arbeitspapier der GDV-Arbeitsgruppe "Soziale Sicherung 2020", Stand 1. April 2008, Teil private Krankenversicherung (zurückgezogen aufgrund von Einwänden des PKV-Verbands).
Diese zehn Seiten, die wie das Hauptpapier der "Financial Times Deutschland" vorliegen, haben es in sich. Denn darin begehen die Autoren ungefähr jede mögliche Frevelei gegen die vorherrschende Gedankenwelt der PKV, die überhaupt möglich ist - und sprechen damit Versicherungschefs großer Konzerne aus der Seele, die schon lang nicht mehr an das bisherige Geschäftsmodell glauben.
Nur wer mehr als 4012 Euro im Monat verdient, selbstständig oder Beamter ist, darf sich privat vollversichern. Zurzeit sind das 8,6 Millionen Personen, die Hälfte von ihnen Beamte und ihre Familien. Das schafft Probleme: Das ganze System funktioniert nur gut, solange junge, gesunde Kunden nachkommen. Aber gerade alte Gesellschaften wie Allianz oder DKV haben Probleme, auch nur die Kundenverluste durch Tod mit Neugeschäft wettzumachen. Sie haben deshalb allen Grund, auf eine Änderung des Systems zu dringen.
Dazu kommt die Politik. Sie hat gerade eine Wartezeit von drei Jahren eingeführt, für die ein Neukunde das höhere, PKV-kompatible Einkommen nachweisen muss, bevor er sich privat versichern darf. Ohnehin ist die PKV in ihrer jetzigen Form zum Spielball der Parteien geworden.
Roß und seine Mitautoren wollen das System gründlich umkrempeln - und dadurch für die Versicherungsbranche die Initiative zurückgewinnen. Das bisherige System von gesetzlichen Kassen und privater Vollversicherung soll durch eine verpflichtende Grunddeckung für alle Einwohner ersetzt werden. Diese würde zunächst von gesetzlichen und privaten Anbietern vorgehalten, langfristig nur von privaten. Daneben verkaufen die privaten Zusatzdeckungen.
Für die Grunddeckung, so das Roß-Modell, gilt Annahmezwang - alle Versicherer müssen alle Kunden akzeptieren, gleichgültig wie krank sie sind. In der bisherigen Vollversicherung wird niemand Kunde, dessen Gesundheitszustand nicht penibel geprüft wurde. Ist er krank, nimmt ihn die Gesellschaft nicht an oder fordert einen Risikozuschlag. Das fiele im neuen System weg - deshalb soll ein Ausgleichspool zwischen den privaten Gesellschaften die Risiken verteilen. Auch bei den gesetzlichen Kassen fällt die einkommensabhängige Prämie weg. Ausgleichsmechanismen soll der Staat mit Steuermitteln schaffen und daraus auch die Prämie für Kinder zahlen.
Da langfristig alle Versicherer privat sein sollen, müsste die Politik die Rechtsform der Kassen ändern. "Hier liegt einer der Gründe, warum viele Versicherungsvereine das System angreifen", sagte ein erfahrener Versicherungsmanager. "Sie fürchten, dass sich die großen Aktiengesellschaften mit großen Kassen zusammentun und die Vereine im Regen stehen bleiben." Außerdem hätten nur Vereine die private Krankenversicherung als Hauptgeschäft. "Da müssen sie befürchten, dass ihre Existenzgrundlage wegbricht, wenn es die bisherige Vollversicherung nicht mehr gibt."
PKV-Verbandschef Reinhold Schulte versucht, den Streit kleinzureden. "Es gibt keinen Krach unter Versicherern", sagte Schulte. Es gebe "lediglich Diskussionen", wie die Branche ihre soziale Verantwortung künftig wahrnehme.