"Du, ich komme später" - das ist der meistgehörte Satz am frühen Morgen auf dem Bahnhof Hamburg-Harburg, der wichtigsten Station für Pendler aus dem Süden. An zweiter Stelle steht schon der Satz "Wann fährt denn die nächste Bahn?" Denn obwohl die Medien seit Tagen von den kommenden Warnstreiks bei der Bahn berichtet haben, hat es viele Fahrgäste kalt erwischt. "Meine Kollegin steht jetzt allein im Café", ärgert sich der 20-Jährige Kevin, der im Hamburger Szeneviertel Eimsbüttel kellnert. "Wenn der Streik weitergeht, dann muss ich von jetzt ab jeden Morgen früher los."
Volle Züge, ärgerliche Reisende
Ärger über das sinnlose Warten ist überall zu spüren. Wut auf die Lokführer nicht. "Ich habe ja Verständnis für die Streikenden, jeder von uns weiß doch, dass kein Arbeitgeber freiwillig mehr Geld rausrückt", sagt Ulrike Niehus, 53, die in Hamburg bei der Rentenversicherung arbeitet. "Aber ich bin Verwaltungsangestellte mit Gleitzeit, da ist das nicht so schlimm." Immerhin fahren die S-Bahnen in die Hamburger City noch im Abstand von 15 bis 20 Minuten. In Harburg sind sie schon reichlich voll, in Japan würden nun freundliche Bahnbedienstete kommen und mit schierer Muskelkraft die Menschen in die Züge drücken.
An den Haltestellen Veddel und Wilhelmsburg, ebenfalls im Hamburger Süden, würde auch das nichts mehr helfen. Die Menschen stehen wie Sardinen in den Waggons, auch die Busse, die ersatzweise fahren, sind knüppelvoll. Nicht anders ist die Situation im Norden, wo jeden Tag etwa 50.000 Pendler aus Schleswig-Holstein nach Hamburg fahren - Züge dicht, S-Bahnen dicht, Busse dicht. Die immer wiederkehrenden Durchsagen auf den Bahnhöfen - "Dieser Bahnhof wird bestreikt. Bitte benutzen Sie nach Möglichkeit andere Verkehrsmittel" - müssen den Reisenden wie Hohn in den Ohren klingen.
Unter diesen Umständen wächst sich die Fahrt zum Arbeitsplatz in Einzelfällen doch zum Passionsweg aus. Vor allem, wenn die Bahn die Menschen im Chaos alleine lässt und nicht weiter mit Informationen versorgt. "Ich musste einen Zug in Tostedt wechseln - aber dass der Anschlusszug gar nicht weiterfährt, wurde erst drei Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit bekannt gegeben", ereifert sich ein Pendler. "Die Bahnleute haben uns eine geschlagene dreiviertel Stunde am Bahnsteig warten lassen, dabei wussten die von Anfang an, dass nix weiter geht."
Leere am Hamburger Hauptbahnhof
Auch am
Hamburger Hauptbahnhof
müssen sich die Menschen zwangsweise die Füße vertreten. Ungläubig starren zwei ältere Damen auf die Anzeigetafel. Sie schütteln den Kopf und blicken sich hilfesuchend um. Doch hier ist niemand, der ihnen helfen könnte. Keiner, der den beiden Rentnerinnen sagt, wie sie nach Passau kommen. "Eigentlich sollte unser Zug um 7.59 Uhr fahren. Doch er fällt aus. Wir sind entsetzt, schließlich warten unsere Bekannten auf uns", sagt Margot Ellermann (80). Ihre Schwägerin Ruth (72) stützt sich auf ihren Rollkoffer: "Wir haben extra Brötchen für unsere Fahrt geschmiert und uns auf die Reise gefreut. Die Enttäuschung ist schon groß. Aber wir haben Verständnis für die Streikenden. Jetzt trinken wir einen Kaffee und warten ab."
So wie den beiden verhinderten Bayern-Touristinnen geht es vielen an diesem Streikmorgen in Hamburg - sie nehmen die Situation mit einer Mischung aus Frust, Verständnis und Galgenhumor. Die meisten scheinen sich aber auf den Streik der Lokführer eingestellt zu haben. In den Gängen, an den Bäckereiständen, an den Gleisen, überall dort, wo sich im Berufsverkehr eines normalen Werktags die Menschen drängeln, verlieren sich an diesem Morgen auffällig wenige Leute. Viele telefonieren mit ihren Handys, andere haben sich in den stehenden Wagons zum Schlafen gelegt, nur einige wenige irren planlos umher. Von Chaos jedoch keine Spur.
Zwar fährt kaum ein Zug planmäßig, manche sind bis zu zwei Stunden verspätet, sieben von zehn ICEs sind in den ersten zwei Streikstunden ausgefallen. Auch hier dröhnt alle paar Minuten die Lautsprecherdurchsage durch den Bahnhof: "Aufgrund des Streiks ist der Bahnverkehr stark beeinträchtigt. Wir bitten Sie um Ihr Verständnis." Und hier scheint der Appell tatsächlich Gehör zu finden. "Ich fahre seit 17 Jahren mit der Bahn zum Arbeiten nach Bremen. Mein Zug kommt heute eine Stunde später. Ich bin noch viel Schlimmeres gewohnt", sagt ein Geschäftsmann mit hellem Sacko und Aktentasche grinsend und holt sich einen kostenlosen Kaffee, den ein Bahnmitarbeiter in der Wartehalle verteilt.
Nur wenige Meter entfernt haben sich die Verursacher versammelt, die streikenden Lokführer. Bei Kaffee und Brötchen stehen sie in der Morgensonne vor dem Bahnhofseingang und recken ihre Plakate den Pressefotografen entgegen. "Die Bahn an die Börse, die Lokführer zum Sozialamt", steht auf dem, das Oliver Speetzen festhält. Der bärtige Mann sollte eigentlich um 6.12 einen ICE nach Köln fahren, doch der Zug hat das Depot nicht verlassen. "Ich streike, damit wir für uns Lokführer einen eigenen Tarifvertrag bekommen und natürlich auch für mehr Geld", sagt der 39-Jährige. "Für die Wut einiger Bahnkunden habe ich schon Verständnis, aber anders können wir unsere Forderungen nicht durchdrücken."